Tierchen Unlimited von Tijan Sila

Juni 20, 2017









(Original: "-"/ 2017) Kiepenheuer & Witsch Verlag, Übersetzer/in: - , 224 Seiten, gebunden (Pappband),  ★★ 3 bis 4 Sterne 
"Irreparabel unglücklich und extrem gut gelaunt. Tijan Sila erzählt in seinem turbulenten Debütroman »Tierchen unlimited« von einem Jungen im bosnischen Bürgerkrieg, seiner Flucht nach Deutschland und seinem Leben unter deutschen Neonazis. Und von den Tücken der Erinnerung.
Sarajevo in den Neunzigern: Die Stadt steht unter Beschuss. Wie erlebt ein Kind den Krieg? Das Comictauschen wird durch Granatenhagel erschwert, der Strom zum Computerspielen ist ständig knapp, und die amerikanischen Soldaten lassen sich nur mit gestohlenen Sex-Heftchen zum Basketballspielen überreden. Oft gefährlich, aber vor allem aufregend und niemals langweilig. Der junge Ich-Erzähler möchte bleiben, aber seine Eltern halten es nicht mehr aus und hoffen auf einen Neuanfang in Deutschland. Nach einer verstörenden Flucht in einem Autobus erreicht der Junge mit seiner Familie Rheinland-Pfalz. Seine neuen Freunde sind Neonazis oder wollen zur Polizei, oder beides. Auch seine Schulfreundin Sarah, mit der er zusammen Gewichte stemmt und erste erotische Erfahrungen sammelt, begegnet ihm Jahre später als Polizistin wieder. Als ein Neonazi ihn bei einem Liebesabenteuer nachts aus dem Bett prügelt, nimmt sie für ihn Rache, und weckt dadurch Gespenster seiner traumatischen Vergangenheit."


MEINE MEINUNG | FAZIT

"Sarah wollte Polizistin werden. Und zwar »schon immer«. Mein »schon immer« war die vage Vorstellung eines akademischen Daseins - ein Plan, der aufgeschoben werden musste, weil meine Eltern bei ihrer Einwanderung das Schulsystem nicht gekannt und sich auf die behördliche Schulempfehlung eingelassen hatten. Als sie erfuhren, dass mich diese Schulart nicht zum Studium qualifizieren würde, war das Geschrei groß, insbesondere meins. Schließlich hatte meine Mutter Theoretische Physik und mein Vater Bibliothekswissenschaft studiert.“  S.17

Ich muss zugeben, dies war wieder ein Buch, bei dem ich bis zum Schluss sehr zwiegespalten war. Zum einen haben mir die Thematik und auch die eigentliche Umsetzung sehr gut gefallen, andererseits hatte ich aber leider auch zeitweise beim Lesen das Gefühl, dass es nicht immer "mein Ding" gewesen ist.
Das Buch zeichnet sich durch eine einerseits direkte Ausdrucksweise in Bezug auf die Grausamkeiten im Krieg aus, ist aber teilweise so auf "edgy" getrimmt, insbesondere was diesen Zusammenhalt der Jungscliquen betrifft, dass mich das manchmal einfach von dem Buch entfernt hat. Ich weiß aber eben auch, dass das eine sehr starke subjektive Meinung ist, denn das Buch braucht genau diese Art und Weise auch eigentlich, um so funktionieren zu können, dass es eben eine Mischung aus Ernst und einer "Overdone"-Attitüde wird.
Der Protagonist erzählt von seiner Flucht aus dem Kriegsgebiet in Bosnien und gerät leider auch in Deutschland nicht zwingend immer an die "Guten". Er stürzt von einer unglücklichen Bekanntschaft zur nächsten, nur eine Freundin scheint hier den nötigen Halt zu geben, den er braucht. Auffällig hierbei ist aber immer diese gewisse Faszination, die der Protagonist dennoch auf alles und jeden hat, der seine Wege kreuzt und etwas Interessantes an sich hat. Das Buch ist dadurch auch durch sehr viele Personen geprägt, die mal auftauchen und wieder verschwinden. Aus einem "Werkstattgespräch" auf der LitBlog Convention hat der Autor sogar preisgegeben, dass in der anfänglichen Version sogar noch mehr Personen vorkamen, aber herausgestrichen wurden. Ich glaube das hat der gesamten Geschichte letztlich ganz gut getan. 
Tatsächlich wird nämlich durch die vielen Erlebnisse, aus beiden Zeitperspektiven, eine neue Geschichte daraus, die dem Protagonisten zum Ende hin sogar selbst eine gewisse Detektivarbeit abverlangt. Diese Entwicklung hat mich tatsächlich relativ überrascht und hat auch einen ganz guten Eindruck hinterlassen. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass sich einige vielleicht fragen, wieso das unbedingt mit eingebaut wurde. Es ist aber wirklich so, dass für mich diese Figur des Protagonisten einfach im Mittelpunkt stand und eben auch seine ganz eigene Denk- und Verhaltensweise. Daraus ergab sich auch in Hinblick auf seine Konflikte ein stimmiges Bild.

"Es gibt keine Einwanderung in meinen Erinnerungen; vielmehr findet mich Deutschland und schließt sich um mich wie eine Faust oder Kralle - doch das Bild einer vom Habicht ergriffenen Maus ist falsch, da ich vor Verzückung erstarrt bin, nicht vor Angst.“  S.77

In relativ gleichmäßigen Wechseln veranschaulicht der Ich-Erzähler also gezielt seine Vergangenheit und seine Gegenwart, die überwiegend durch Involvierungen mit Nazis geprägt ist. Man kann sich also denken, dass sein Leben, wenn man es liest, nicht gerade eines der erfreulichsten ist und dennoch schwingt immer so eine Unbekümmertheit mit, die ich manchmal gar nicht deuten konnte. Ich bin bei solchen Geschichten meist stärker fokussiert auf die Kapitel, die eben diese Herausforderungen beschreiben, das "sich Durchschlagen" auch der Eltern in Deutschland, um für seine Kinder eine bessere Zukunft ermöglichen zu können. Und für mich hat dies immer einen sehr bitteren Beigeschmack. Ich kann mich dann nicht so gut von den stark im Gegensatz stehenden "komischen" Elementen einnehmen lassen. So wird auf der Rückseite Feridun Zaimoglus Zitat angeführt: "Hart, mitreißend und wahr: an einem Tag weggelesen, schallend gelacht!"
Bei dem ersten Teil bin ich voll und ganz einer Meinung. Es ist hart und gleichzeitig mitreißend. Allerdings blieb dieses "schallend gelacht" irgendwie aus, auch wenn ich weiß, dass dies so beabsichtigt sein wollte. Ich glaube aber wie gesagt, das trifft einfach nicht ganz meinen persönlichen Geschmack; dass man versucht mit eine so ernste Erfahrung mit der entgegengesetzten Komik zu kontrastieren. Und dennoch hat das Buch für mich sehr viele Elemente, die sich sehr gut und auch sehr wichtig in den Vordergrund stellen. Natürlich wird hier nämlich auch thematisiert, dass es nicht immer einfach ist, aus einem bestimmten Kreislauf auszubrechen, sich von Dingen zu lösen, die einen förmlich festhalten und immer wieder runterziehen. Aber dies sollte nicht der eigene Maßstab für das Leben werden.

"Menschen erwachen in Sarajevo jeden Morgen mit dem Gedanken auf: ´Lieber Gott, lass mich heute nicht sterben. Ich bin zu jung. Ich habe Besseres verdient.´ Aber Tierchen haben keine Vorstellung vom Tod. In ihren Schädeln schwappt eine Mischung aus Jetzt und Ewigkeit hin und her." S.28


Ein Roman, der durch einen sehr speziellen Ich-Erzähler geprägt ist. Erzählt die Flucht aus dem bosnischen Bürgerkrieg, verschmilzt aber gleichzeitig zu einer gegenwärtigen Erzählung seiner Erlebnisse in seiner neuen Heimat Deutschland. Durch die teilweise "derbe" Sprache, war es nicht immer mein Fall, jedoch passt sie einfach gut in das eigentliche Konzept; daher muss man sich aufjedenfall darauf einlassen, um auch den Kontrast, aber auch das starke Zusammenspiel der beiden "Leben" des Protagonisten anzunehmen. Langweilig ist es durch die vielen verschiedenen und auch skurrilen Figuren, nicht, auch wenn man manchmal natürlich das Gefühl hat, dass sich alles etwas überspitzt anfühlt, wobei man sich auch durchaus bewusst wird, dass es diese Kreisläufe, in denen manche Menschen sich befinden, tatsächlich gibt. Daher einerseits durch die intensiven Kriegsschilderungen sehr ernst und interessant, aber eben durch die gewissen Eigenarten des Protagonisten unterhaltsam. Also eine Mischung aus scheinbar einfach und doch komplex.



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