Geniale Störung von Steve Silberman

November 06, 2016






(Original: "NeuroTribes. The Legacy of Autism and the Future of Neurodiversit" / 2015) DuMont, Übersetzer/in: Harald Stadler und Barbara Schaden, 608 Seiten, gebunden,  Einzelband, ★★★() 4 bis 5 Sterne
"Was ist Autismus? Eine verheerende Entwicklungsstörung, eine lebenslange Behinderung? Oder aber eine ganz normale kognitive Eigenheit, verwandt mit Formen des Genies? In Wahrheit ist Autismus das alles und noch mehr.
In einer einzigartigen Mischung aus Historie, Reportage und wissenschaftlicher Studie kommt Steve Silberman in seinem bahnbrechenden Buch dieser bis heute mysteriösen neuronalen Besonderheit auf die Spur. Er hat jahrelang die geheime Geschichte des Autismus recherchiert. Zudem findet er überraschende Antworten auf die Frage, warum die Zahl der Diagnosen in den letzten Jahren gestiegen ist. Dabei nimmt Silberman den Leser mit auf eine Kreuzfahrt nach Alaska – an Bord die führenden Programmierer des Silicon Valley. Oder auch ins London des 18. Jahrhunderts, wo der exzentrische Henry Cavendish das ohmsche Gesetz entdeckte – aber niemandem davon erzählte. Und wir hören die Geschichte von Hans Asperger, der seine kleinen Patienten vor den Nazis zu beschützen versuchte. Am Ende aber zeigt uns Steve Silberman in seinem wunderbar erzählten, empathischen Buch, dass wir Autisten und ihre Art zu denken brauchen."


MEINE MEINUNG | FAZIT 

"[E]r bezeichnete ihr Zustandsbild als ´Autismus´ - nach dem griechischen Wort autós, ´selbst´-, weil sie in ihrer Abgeschiedenheit am zufriedensten zu sein schienen.S.16

Menschen sind für mich wirklich unbegreiflich. Und dabei zähle ich die Menschen, die von dem Syndrom des "Autismus" betroffen sind, gar nicht wirklich dazu, denn sie geben wenigstens nicht vor etwas zu sein, was sie nicht sind. Im Gegensatz zu den "normalen" Menschen, die sich so in den Vordergrund stellen und diese "Krankheit" unbedingt benennen möchten und am Ende irgendwie dadurch alles schlimmer machen, zumindest für die Betroffenen. Das Buch zeigt nicht nur eine geheime Geschichte des Autismus auf, die Mut spendet, sondern eben auch die Schattenseite des Ganzen. Es hat unfassbar lange gedauert, bis eine anständige Anerkennung des Verhaltens der betroffenen Kinder (und auch Erwachsenen) überhaupt möglich geworden ist. Zudem kann man durchaus sagen, dass immer noch reichlich Fragen offen sind, die sich vielleicht ebenso erst in vielen Jahren ganz beantworten lassen. Aber Steve Silberman hat mit seinem Buch "Geniale Störung" eine wirklich gute Leistung erbracht, den Lesern, Außenstehenden, wie vielleicht auch betroffenen Familien zu veranschaulichen welche Dinge man dringend besser machen muss und wie wichtig es ist, die Menschen mit Autismus als ebenbürtige Menschen anzusehen. Ich persönlich habe mir beim Lesen ständig gedacht, dass es ein wahrer Irrsinn gewesen ist, dass man die Kinder so aufgegeben hat und versucht hat sie mit allen möglichen Strafen "geradezubiegen". Das Buch wühlt definitiv auf und sorgt gleichzeitig dafür, dass man noch mehr Interesse an dem Thema zeigt. Obwohl man zunächst annimmt, dass das Buch etwas "abdriftet" in dem es kleine Exkursionen in die wissenschaftlichen Bereiche unternimmt, zeigt es paradoxerweise dadurch sehr gut auf, wie wertvoll die speziellen Begabungen der autistischen Menschen sein können. Es ist wirklich eine Aufforderung an den Leser, nicht alle Menschen direkt abzuschreiben, die sich (zumindest auf den ersten Blick) merkwürdig verhalten und von denen man meint, sie wären nur "verrückt".

"Als ein Lehrer ihn [Lee Felsenstein] bezichtigte, im Unterricht zu träumen, erwiederte er: ´Ich träume nicht, ich erfinde.´S.264

Insgesamt gibt es vierzehn verschiedene Kapitel, welche sich alle auf ein bestimmtes Entwicklungsstadium oder eine bestimmte Aussage zu dem Thema beziehen. So werden Persönlichkeiten aus dem 18. Jahrhundert erwähnt, die man sozusagen als "Vorreiter" der Betroffenen ansehen kann, es werden sehr persönliche Erfahrungen verschiedener Familien nahegebracht, die ihren Kampf, aber auch ihre Freude über kleine (wie auch große) Erfolge darlegen und es werden allgemein die Fortschritte in der Medizin, wie auch in der Behandlung des Syndroms erwähnt. Nicht alles ist leicht zu verkraften, denn tatsächlich war es damals einfach nicht leicht ein autistisches Kind zu haben (und durchaus gibt es heute auch noch gewisse Hürden). Das wunderbare an dem Buch ist aber eben auch, dass der Autor wunderbar aufzeigt, wie vielfältig autistische Menschen sind und in wie weit sich die Gesellschaft eine große Portion von ihnen abschauen sollte. Denn obwohl sie als "gesellschaftsscheu" gelten, verfolgen sie einfach ihre eigenen Interessen und Ziele und erfinden so die erstaunlichsten Dinge. Wir hingegen versuchen immer nur in die Gesellschaft zu passen und uns so gut zu fügen, dass man keine Unterschiede erkennt (auch wenn es natürlich auch Dinge gibt, die für eine funktionierende Gesellschaft nicht so förderlich sind, welche bei Autisten auftreten). Viele der beschriebenen Kinder mit diesem Syndrom (oder eben auch Erwachsene) schließt man sofort ins Herz und ist erstaunt darüber, wie sie ihre Welt wahrnehmen und sich in ihr verständigen. Ebenfalls interessant sind die Ansätze zur Klärung der "Ursache" des Autismus. So ist eine Möglichkeit darauf ausgelegt, dass sich ein gewisses "Genie-Gen falsch entwickelt hat" und durch merkwürdige Verhaltensweisen kompensiert werden muss. Ich bin ja der Meinung das ist ein wunderbarer Ansatz, denn für mich ist der "Autismus" keine Krankheit, sondern eine andere Form sich auszudrücken. Und wie man an vielen Beispielen von Steve Silberman erkennen kann, verdanken wir vielen der Betroffenen die wichtigsten Erfindungen der Welt.

"Psychotische Kinder waren, weil sie als unerziehbar galten, vom Schulsystem ausgeschlossen und besuchten stattdessen Werkstätten für geistig Schwerbehinderte, in denen sie Körbe flochten, um beschäftigt zu sein. Niemand wusste, was aus ihnen werden sollte, wenn sie erwachsen wären.“ S.361


Unfassbar vielseitiges Buch, welches die Problematiken aufzeigt, die hinsichtlich des Autismus in der Gesellschaft aufzufinden sind. Überzeugt durch viele verschiedene, aber sehr anschauliche Beispiele, wie Familien für ihre autistischen Kinder kämpfen mussten und was sich ungefähr in der Entwicklung der medizinischen Versorgung hinsichtlich des Syndroms getan hat. Greift zudem historische Details auf, wie die Namensgebung und vertieft das Außergewöhnliche der "Autisten", wie auch deren ganz eigene Art mit der Welt zu kommunizieren und sich in ihr zurechtzufinden. Informativ und auf jeden Fall sehr lesenswert.


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