(Original: "Kaddisj voor een kut" / 2014) Luchterhand, Übersetzer/in: Rainer Kersten, 144 Seiten, gebunden, Einzelband, ★★★★★ 5 Sterne
"Bisher hat Dimitri Verhulst – zum Brüllen komisch, zum Heulen schlimm – seine Kindheit geschildert, aber nie seine Erfahrungen in einem Kinderheim. Nun wagt er den Blick in den Abgrund: In dem Heim »Sonnenkind« landen Kinder aus den unterschiedlichsten Gründen, doch eines haben sie gemeinsam: Sie sind unerwünscht. Und was ihnen dort fehlt, das fehlt ihnen oft ihr Leben lang: Wärme, Familie, Liebe. Angenommensein. Deshalb stürzt sich die siebzehnjährige Gianna im Heim aus dem obersten Stock in die Tiefe, deshalb werden Stefaan und Sarah zu Mördern ihrer eigenen Kinder ... Auch dieses Werk Verhulsts zeichnet sich durch barocke Sprachgewalt und pechschwarzen Humor aus, aber es spiegelt ebenso wider, wie ausgeliefert und hoffnungslos er selbst sich als Junge gefühlt hat."
Leseprobe»
"Wer zu spät kommt, hat wenigstens noch das Vergnügen, sich eine originelle Geschichte zur Entschuldigung zusammenzufabulieren zu dürfen; für Zufrühkommen gibt es schlichtweg keine Ausreden, außer absolut lächerliche.“ S.9
Dimitri Verhulst hält in seinen Erzählungen etwas so Bitterböses und Verletzliches bereit, dass ich mich davon schwer losreißen kann. Es gibt diese "neutrale Schrecklichkeit", die einen irgendwie nicht loslässt. Vor allem, wenn man dies hinsichtlich seiner beiden kurzen Erzählungen in diesem Buch betrachtet. Hier geht es um autobiografische Erlebnisse, die zu Beginn auch als "Zwei Geschichten nach wahren Begebenheiten" gekennzeichnet sind. Dadurch liest man die Geschehnisse mit einer viel stärkeren Sensibilisierung für die Schicksale der Menschen. Dabei muss ich zugeben, dass mich der erste Titel "Requiem für eine Fotze" zunächst etwas irritiert und abgeschreckt hat. Allerdings wird in der Erzählung selbst darauf Bezug genommen, was den Titel wiederum als perfekte Aussage der Einstellung der Menschen wiedergibt, die sich erlauben ein Urteil über "Heimkinder" zu bilden. So lebt das Buch natürlich von ständigen Vorurteilen, denen die Kinder begegnen, aber eben auch von den niederschmetternden Ablehnungen, die sie erfahren müssen. Und obwohl es einem (auch beim Lesen beider Geschichten) das Herz ein wenig zerreißt, schafft es Dimitri Verhulst, eine Balance zu wahren, die das Buch nicht zu einem "Gemecker" über die Ungerechtigkeiten im Leben werden lässt (Kritik gibt es natürlich dennoch genug). Es ist eine Darstellung seiner Erfahrungen, die einen mit voller Wucht trifft und alle möglichen Gefühle in der Brust aufkommen lässt. Man muss tatsächlich zwischendurch schmunzeln, weil er einfach eine gewisse Gabe besitzt, selbst die schrecklichen Dinge in bitterböse Komik zu verwandeln. Man sitzt aber auch bei vielen Passagen einfach nur da und denkt sich, dass es unvorstellbar ist, dass Kinder ein solches Leid erfahren müssen. Ja, das Verhalten der Gesellschaft kommt hier nicht ganz so gut weg, aber man kann es ihm nicht verübeln.
"Gianna sagte: ´Das Problem ist nicht, dass es zu viele Menschen auf der Welt gibt. Das Problem sind die vielen Unerwünschten!´ Und du wusstest: Um diesen Satz je zu vergessen, müsstest du Alzheimer bekommen.“ S.39
Das Interessante an den Erzählungen ist aber nicht nur der Inhalt, sondern auch die Erzählform. Die erste Geschichte wird quasi bei einer Beerdigung rekapituliert und führt einen sozusagen im Rückwärtsgang durch das Leben des Protagonisten, welcher in einem Heim groß geworden ist (in wie weit jetzt alle Details in autobiografischer Hinsicht zu Verhulst stehen, weiß ich leider nicht). Die zweite Erzählung ist etwas kurioser aufgebaut. Hier gibt es zwei Protagonisten, die sich mit direkter Rede zu Wort melden und es gibt Passagen, die ihre Situation näher erläutern, also eine Erzählerinstanz. Hier wird ganz geschickt mit dem Wahrheitsgehalt der Aussagen und der Zurechnungsfähigkeit der Protagonisten gespielt. Beide Erzählungen enden aber mit wahrlich rührenden Aussagen. Es ist wohl ein Buch, welches etwas spezieller ist, was den "Humor", die Ausdrucksweise und den Inhalt angeht, aber ich finde es ist ein Buch, welches eben leider die bittere Realität aufzeigt und schon dadurch allein lesenswert ist (Gerne lege ich jedem auch mal die Leseprobe ans Herz, wer sich unsicher ist). Verhulst hat einen ganz eigenen Stil die zu verarbeitenden Dinge wiederzugeben und zwar in einer Art und Weise, die einen mit wenigen, aber gezielten Worten berührt.
"Ich wusste nicht viel, aber eins wusste ich: Meine Kinder würden sie nicht in ein Heim stecken. Nur über meine Leiche. Also, was sollten wir tun? Wir haben unsere Kinder kaputtgemacht. Zu ihrem eigenen Besten.“ S.142
Kurze, aber sehr intensive Lektüre mit autobiographischen Inhalten, welche die Kinderheim-Erfahrungen des Autors darlegt. Spielt gekonnt mit bitterbösen Sticheleien gegen die Gesellschaft und porträtiert realistisch die Schwachstellen des "Kinderheim-Systems". Enthält eine Erzählung, die eine reflektiere Sicht des Protagonisten darlegt und eine Erzählung, in denen zwei andere Figuren sich mit der Frage auseinandersetzen, ob das Heim für ihre Kinder eine Option wäre. Interessante Schreibstile und einfach eine sehr lesenswerte Lektüre. Mit aufwühlenden Gefühlen kann man sicherlich rechnen, wie auch mit dem Nachklang, dass sich etwas ändern müsste.
Vielen Dank an den Luchterhand Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars!
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