(Original: „Mr. Gwyn“ und „Tre volte all´ alba“) 320 Seiten, Hardcover, Einzelband, ★★★★☆ 4 Sterne
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"Jasper Gwyn, ein berühmter englischer Schriftsteller Anfang vierzig, fasst eines Tages einen weitreichenden Entschluss. In einem Zeitungsartikel listet er 52 Dinge auf, die er fortan nicht mehr zu tun gedenkt, darunter auch: Bücher schreiben. Stattdessen beschließt er, in seinem neuen Leben als "Kopist" zu arbeiten und Porträts anzufertigen - dies allerdings nicht mit Pinsel und Palette, sondern in geschriebener Form. Er mietet ein Atelier an, wo ihm fortan Menschen Modell sitzen, die sich später in seinen Porträts gänzlich wiederfinden werden. Bis eine junge Frau auftaucht, die sich den strengen Regeln des Kopisten entzieht."
MEINE MEINUNG | FAZIT
„Immer
häufiger jedoch machte sich jenes Bedürfnis zu schreiben bemerkbar […] Er
schreib im Geist […]. Er wählte Worte, baute Sätze. Es kam vor, dass er
tagelang einer bestimmten Idee folgend fortfuhr, bis er ganze Seiten im Kopf
geschrieben hatte […].“ S. 21
Ein tolles Buch, welches mich von der ersten Seite an, interessiert hat. An
vielen Stellen, habe ich mich wie Mr. Gwyn selbst gefühlt, man weiß nicht
genau, wohin einen der Text trägt und man kann sich auch nicht vorstellen, wie
Mr. Gwyns Vorhaben aussehen wird. Einige Stellen hätten zudem, meinerseits,
weggelassen werden können. Das liegt aber auch größtenteils daran, dass ich ein
Leser bin, der die Thematik des körperlichen Begehrens und der Erwähnung
dessen, nicht zwingend braucht. Ich mag Geschichten, die über so etwas
hinausgehen. Das ist auch der Grund, wieso mir diese Lektüre letzten Endes doch
besser gefallen hat, als ich in der Mitte angenommen habe. Das Buch baut am
Anfang definitiv gewisse Spannungen auf. Man fragt sich, wie diese Liste das
Leben des Schriftstellers nun verändern soll. Man ist gespannt, was ein
Schriftsteller mit seiner restlichen Zeit anfangen will, ohne zu Schreiben.
Diese Idee gefiel mir wirklich sehr gut. In der Mitte gab es für mich eine
kleine, ich würde nicht sagen Enttäuschung, aber die Euphorie des Anfangs ist
etwas zurückgegangen. Mit der Bildung des Vorhabens, ein Kopist zu werden und
mit der Errichtung seines Ateliers steigt aber wieder das Bedürfnis, als Leser,
herauszufinden, was Mr. Gwyn im Schilde führt. Er ist sicherlich ein sehr
spezieller Charakter, der sich durch seine eigenen Vorstellungen, an Dinge
herantraut, an die man normalerweise nicht denkt. Es macht Spaß zu sehen, wie
neue Sachen entstehen und wie poetisch die Tätigkeit, die Mr. Gwyn ausführen
will, sein kann. Mich hat vor allem die Art des Protagonisten Mr. Gwyn sehr angesprochen. Er ist, und das merkt man sofort, nicht wie alle anderen. Die Eigenart bringt der Text gut zur Geltung. Allein dadurch, dass Mr. Gwyn sich selbst einen Beruf "ausdenkt", lässt vermuten, dass dies eine Geschichte ist, die den Leser überall hinführen kann.
„Er dachte
an die Sache mit dem Nach-Hause-Zurückbringen. Niemals hätte er sich
vorgestellt, dass ein Porträt jemanden nach Hause zurückbringen könnte […]. Wer
hätte je Geld gezahlt, um sich von einem Maler die Maske abreißen zu lassen und
den Teil des eigenen Selbst bei sich zu Hause aufzuhängen, den man tagtäglich
mühsam vor allen verbarg?“ S. 44
Die Geschichte steuert zudem sehr viele
unterhaltsame Unterhaltungen bei. Mir gefiel die Begegnung und die Fortführung
der Konversationen zwischen dem Protagonisten und einer alten Dame, die er
kennenlernt. Sie haben etwas sehr Eigenes und implizieren, wie sehr sich der
Mensch danach sehnt, seine Gedanken jemandem anzuvertrauen, der diese deuten
kann. Ebenso gibt es eine gefühlvolle Handlung, die durch die Beziehung
zwischen dem Autor und seinem Agenten entsteht. Es war sicherlich einer der
Passagen, die dem Leser das Gefühl geben, dass auch Mr. Gwyn „normale“
Beziehungen zu Menschen pflegte. Alessandro Baricco hat ein Werk geschaffen,
welches wie das Stilmittel der „romantischen Ironie“ wirkt. Es ist ein Werk, in
einem Werk. Nicht nur durch die Porträt-Idee, sondern auch zusätzlich durch die
Ergänzung des im Buch genannten Werkes „Dreimal im Morgengrauen“. Obwohl die
Werke im Original nicht in einem Band erschienen sind, sondern separat, merkt
man, wie gelungen verknüpft die Geschichten miteinander sind. Man empfindet mit
zunehmender Seitenzahl nicht nur eine Sympathie und Bewunderung für Alessandro
Baricco selbst, sondern auch für seine Figur Mr. Gwyn, da man das Gefühl
bekommt, als wäre Baricco nur der Übermittler der ganzen Geschichten. Ja, für
mich wurde Mr. Gwyn lebendig.
„´Sehen Sie
mal aus dem Fenster, der Morgen dämmert schon. ´ […] ´Es ist das richtige
Licht, um nach Hause zurückzugehen, genau dafür ist es gemacht´.“ S. 278
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Liest sich,
wie ein bewegtes Gemälde: ruhig, fließend, malerisch. Thematisiert
gekonnt das Bedürfnis eines Schriftstellers nicht mehr zu Schreiben und es paradoxerweise
doch zu tun. Besticht durch schöne, poetische Passagen und eine sehr
gelungene Verknüpfung zwischen diesem Werk und einer im Buch erwähnten Lektüre.
Die Charaktere haben alle etwas sehr Spezielles, in ihrer Art, wie auch die
Weise, wie sie beschrieben werden. Für mich ein neues Leseerlebnis, welches
sich positiv ausgezahlt hat. Einige Abzüge, da mir subjektiv, die
Beschreibungen des Verlangens, als eher zu banal vorkamen und der eigentlichen
Idee keine „Hilfe“ waren.
Vielen lieben Dank an den Hoffmann und Campe Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars!
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