"Ein simpler Eingriff" von Yael Inokai: Deutscher Buchpreis 2022

Oktober 02, 2022

Werbung ~ Rezensionsexemplar 

Mein Patenbuch zum Deutschen Buchpreis 2022 ist mit seinen 187 Seiten recht schlank, inhaltlich aber durchaus gut gefüllt.

Der Hanser Verlag, bei dem der Roman erschienen ist, beschreibt die Geschichte wie folgt:
Ein neuartiger Eingriff soll Frauen von ihren psychischen Leiden befreien. Doch ist das menschenwürdig? Eine Geschichte von Emanzipation, Liebe und Empathie.
Meret ist Krankenschwester. Die Klinik ist ihr Zuhause, ihre Uniform trägt sie mit Stolz, schließlich kennt die Menschen in ihrem Leiden niemand so gut wie sie. Bis eines Tages ein neuartiger Eingriff entwickelt wird, der vor allem Frauen von psychischen Leiden befreien soll. Die Nachwirkungen des Eingriffs können schmerzhaft sein, aber danach fängt die Heilung an. Daran hält Meret fest, auch wenn ihr langsam erste Zweifel kommen.
„Ein simpler Eingriff“ ist nicht nur die Geschichte einer jungen Frau, die in einer Welt starrer Hierarchien und entmenschlichter Patientinnen ihren Glauben an die Macht der Medizin verliert. Es ist auch die intensive Heraufbeschwörung einer Liebe mit ganz eigenen Gesetzen. Denn Meret verliebt sich in eine andere Krankenschwester. Und überschreitet damit eine unsichtbare Grenze


Der Fokus liegt durchaus verstärkt auf der langsam einsetzenden Skepsis des Eingriffs gegenüber sowie der sich entwickelnden Freundschaft und Liebe beider Krankenschwestern. Darüber hinaus enthielt der Roman für mich aber noch viele kleine Zwischentöne, welche die Geschichte zusätzlich spannend und packend machen.
 
 
Marianne hätte sein Schlüssel sein sollen, sagte eine der älteren Schwestern.
Schlüssel zu was? 
Zu Geld. 
- S.130



Der Roman geht bei den beschriebenen Eingriffen kaum ins Detail, dennoch erfährt man, wie die ganze Prozedur aussieht und welche Absichten die "Heilung" verfolgen soll. Natürlich wird schnell deutlich, dass die Ärzte ganz anderen Absichten nachgehen, als die bloße Hilfe anzubieten, Frauen ein sogenanntes "normales" Leben zu ermöglichen. Medizin (und Krankenhäuser) als Geldquelle und als Institution, die Menschen für eigene Zwecke missbraucht, ist nichts Neues, wird hier aber gekonnt verpackt. Für mich war diese Offenbarung dessen so gut getroffen, da es sich nach und nach hochschaukelt und Leser*innen das Gefühl haben, ein Anfangsstadium dieses Verhaltens zu beobachten.

Wir folgen der liebenswürdigen Krankenschwester und ihrer anfangs doch naiven Einstellung und enden bei einem Ausbruch aus dem System. Bezeichnend war für mich immer wieder die angedeutete Ungleichheit zwischen Männern und den scheinbar kranken Frauen. So müssen die Ausbrüche der Patientinnen sofort geheilt und behoben werden, die der Männer, sogar die der leitenden Ärzte hingegen, wird als Ausdruck ihrer Arbeitsintensivität hingenommen.
Für mich sorgt der Roman dabei für eine weitere Ebene einer Erzählung, die vielleicht auf den ersten Blick unter dem Radar fliegt, aber dennoch präsent ist. Besonders in der Retrospektive scheinen diese kleinen Einschübe, die manchmal sogar schon ganz unterhaltsam wirkten, eine ganz eigene Macht und Schwere in sich zu tragen. Ich persönlich habe die Art der Erzählung daher sehr genossen, weil die Leser*innen auch zwischen den Zeilen viel offenbart bekommen. 

Es ist angesichts der Thematik nicht verwunderlich, dass der Roman einen nicht wirklich glücklich zurücklässt, dennoch gibt es durch die besondere Verbindung zwischen Meret und Sarah diesen einen Hoffnungsschimmer, den das Buch sicherlich braucht. Die Erzählungen aus dem sterilen, eher kalten Krankenhaus bilden mit der Zeit einen sehr starken Kontrast zu den lebhaften Episoden der Beziehung. 


Hoffnung ist gefährlich. Ich hatte schon erlebt, wie sie Menschen letzten Endes in die Verzweiflung trieb. Trotzdem gab es keine Alternative zu ihr. Nicht auf meiner Station. Die Medizin stand schließlich auf den Schultern der Hoffnung. Ich musste sie immer wachhalten, egal, wie aussichtslos die Lage war. 
- S.154


Ich muss zugeben, dass ich verwundert war, wie kompakt der Roman ist und dabei gleichzeitig das Gefühl erweckt, man lese mehrere Romane gleichzeitig. Anfangs haben mich die Einschübe, die sich außerhalb des Krankenhauses abspielen, nicht gänzlich interessiert. Ich wollte eher der Frage nach diesen Eingriffen auf den Grund gehen. Mit jedem zusätzlichen Kapitel jedoch, gefielen sie mir immer mehr, weil sie das angedeutete Gegenstück bilden. In ihnen findet sich so viel über Familie, Freundschaft, Liebe, Verantwortungsgefühl und die Wünsche an das Leben, dass die Geschichte dadurch sehr viel Nahbarkeit gewinnt. Oftmals fallen Sätze, die man erst einmal so annimmt, die mich aber im Nachhinein mehr beschäftigt haben als gedacht. Zum Beispiel wenn Meret von einem Ereignis erzählt, in dem sie ihre eigene Rolle als Tochter realisiert und sagt: "Ich war eine Tochter. Ich war mir sicher gewesen, ich würde das immer bleiben, es gäbe kein Leben, in dem ich das nicht mehr war."

Für mich sind solche Gedanken in Romanen immer ein Punkt, an dem ich kurz innehalte und hinterfrage, was ich aus diesen Aussagen mitnehmen kann, wie sie sich auf mich auswirken und wie sich mein Verhältnis dadurch auch zum Text selbst erneut verändert. Hier haben sie mir doch einen ganz guten Aufschluss darüber gegeben, wie ich Meret zusätzlich charakterisieren kann, ohne dass dies auf weiteren zweihundert Seiten dargelegt wird. Mir gefiel diese Art der Verdeutlichung daher sehr.

  

So hat mir der Roman insgesamt gefallen: Es ist schwierig, dem Buch in seiner Gänze mit einigen Sätzen gerecht zu werden. Er bietet so viele Themen, Blickpunkte, Gefühle, Beziehungen, die vielleicht anfangs zu knapp zusammengefasst scheinen, für mich jedoch wunderbar umgesetzt wurden.
Die Problematik mit den Eingriffen, um das "Leiden der Frau" zu heilen, wird nicht zum Geheimnis gemacht. Man erkennt relativ schnell, worauf dies abzielt und welche moralischen Verflechtungen damit einhergehen. Dabei stehen die Ansichten der Krankenschwestern zunächst denen der Ärzte und schließlich auch denen der Familienmitglieder der Patientinnen gegenüber. Auch hier war dies für mich gut gelöst, da es stets im Einklang und Bezug zur Protagonistin gesetzt wird.
Die Kritik an der Stellung und Behandlung der Frau im Gegensatz zum Mann wird hier ebenfalls stark hervorgehoben, wenn auch letztlich vielleicht gar nicht so permanent in den Vordergrund gerückt, wie die Entwicklung der Figur Meret, der Beziehung zu Sarah und dem sich steigenden Impuls ausbrechen zu wollen.

Für mich daher ein würdiger Longlist-Titel für den Deutschen Buchpreis 2022. Ich hätte ihn gerne auch auf der Shortlist oder ihn sogar als Sieger gesehen. Umso glücklicher bin ich aber, dass ich diesen Roman durch meine Patenschaft entdecken und lieben lernen konnte.




3 Kommentare:

  1. Hallo Karin, das klingt wirklich wunderbar! Ich mag das Cover schon sehr gerne und die Geschichte könnte mich auch einfangen. Das Buch kommt direkt auf meine Liste.

    Zeilentänzerin

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    1. Oh, ich hoffe, dass es in dein Regal schafft. Ich kann es wirklich nur empfehlen! :)

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  2. Was für eine schöne Kulisse;)

    LG

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