"Ein System, so schön, dass es dich blendet" von Amanda Svensson

Oktober 23, 2022

 
Werbung ~ Rezensionsexemplar (Original: "Ett system så magnifikt att det bländar"/ 2019) btb Verlag 2022, Übersetzer*in: Ursel Allenstein (aus dem Schwedischen), ★★★★ 5 Sterne
1989: In Berlin fällt die Mauer, in Schweden gebiert eine Pfarrerin Drillinge. 2016: Die Drillinge Isaksson sind in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Sebastian forscht in London am Institut für kognitive Wissenschaften über außergewöhnliche neurologische Phänomene bei Mensch und Tier. Seine Schwester Matilda, eine bipolare Synästhetikerin, übt in Berlin Yoga und führt – im Rahmen ihrer Möglichkeiten – mit ihrem Freund Billy und dessen Tochter Siri ein halbwegs normales Leben. Clara, die Dritte im Bunde, reist auf die Osterinsel, um ihre Familie möglichst weit hinter sich zu lassen und eine Reportage über eine buntgemischte Kommune aus ehemaligen Ökoaktivisten zu schreiben, die mittlerweile resigniert haben und in feierlicher Erwartung dem Weltuntergang entgegensehen.

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Eine Familie ist auch nur ein System wie jedes andere, Sebastian. Es existiert, um uns ein Gefühl der Geborgenheit und Stabilität zu geben. Aber es ist ein System, das keine Bedeutung hat, wenn es nicht mit etwas Wertvollem bestückt wird. Liebe. Vertrauen. Solche Sachen. 
- S.674

 
Der perfekte Einstieg für diese Rezension fällt mir durchaus schwer. Zunächst hätte ich es gerne als reinen Glücksgriff bezeichnet oder in die Kategorie "Coverliebe" eingeordnet, aber so einfach ist es dann doch nicht. Denn bei Romanen mit knapp 700 Seiten, habe ich es mir angewöhnt, zumindest in die Leseprobe zu schauen. Und bereits nach dem ersten einleitenden Kapitel, hatte ich das Gefühl, dass das Buch genau meins sein könnte.
Getäuscht habe ich mich in diesem Fall nicht, aber dass der Roman zu einem meiner Lieblinge werden würde, hätte ich anfangs auch nicht gedacht. 

Die Geschichte rund um die Drillinge ist das, wonach es klingt: eine Familiengeschichte. Und ja, ich mag diese Art von Romanen, wenn sie gut konzipiert ist. Svensson hat dabei genau das gemacht, was mich immer am meisten packt. Sie ergänzt die Lebenslinien, Schicksale und Familienhistorie mit spannenden Elementen, die eine weitere Ebene öffnen.
Die Leser*innen bekommen zusätzlich eine Endzeitstimmung präsentiert, gepaart mit einer scheinbaren Verschwörung, die es aufzudecken gilt. Durch diese erweiterten und clever eingebauten Handlungsstränge bleibt die Geschichte niemals langweilig und lässt die Figuren dabei erfrischend anders wirken.


Es gibt nämlich nur wenige Dinge, die Touristen so anlocken wie der Vorgeschmack auf einen Weltuntergang. 
- S.154


Man muss sicherlich anmerken, dass die Protagonist*innen grundsätzlich andere Maßstäbe an das "Normale" setzen. Sebastian, einer der Drillinge, arbeitet an einem Hirnforschungsinstitut. Ungewöhnliche Verhaltensweisen oder Wahrnehmungen sind hier vorprogrammiert: Menschen, die aus heiterem Himmel künstlerisch begabt sind, eine Frau, die nur noch zweidimensional sehen kann und eine Äffin, die einen sehr korrekten moralischen Kompass besitzt.
Was ich an diesem Handlungsstrang mochte, war, dass der Roman nicht nur auf die "eigenartigen" Aspekte dieser Entwicklungen eingeht, sondern sich auch stark mit der psychologischen Seite befasst. Zwischen den Zeilen kommen wir zumindest einer der Figuren sehr nahe und können uns erschließen, womit die Veränderung zusammenhängt. Mir gefiel, wie ich als Leserin einerseits zwischen "das ist schon weit hergeholt" und dem sich einstellenden "das klingt völlig plausibel" hin und her geschwankt bin, einfach weil der Roman es einem an vielen Stellen so einfach damit macht. 
Die Figuren geben dem Roman stets das Gefühl, dass alles, was erlebt wird, auch hundertprozentig so ist. Ich zumindest, habe nach und nach keine Schwierigkeiten damit gehabt, mich von dieser Einstellung mitreißen zu lassen. Auch bei den anderen Familienmitgliedern gibt es Situationen, die eigentlich unwirklich oder unmöglich scheinen, die aber wunderbar zur Geschichte und zum "Geist des Romans" passen. 
 
Nach und nach wird zwischen Verschwörung, geheimen Plänen der Firma, Weltuntergängen und eben der Suche nach dem eigenen Glück jedes Familienmitglieds noch ein Geheimnis gelüftet, das erneut einen Wechsel im Geschehen ermöglicht. Obwohl man meinen könnte, dass es zu viel für eine Erzählung ein könnte, fand ich es unfassbar gut gelöst, da sich die Familiengeschichte wieder zusammenfindet und alles geschlossen wird. Ich kann dabei nicht einmal sagen, dass ich eine*n Favorit*in habe, wenn es um die Figuren geht, Meiner Meinung nach ergänzen sich alle so wunderbar, dass man keinen Teil davon missen möchte. 
 
Spannend zu verfolgen war zudem für mich die Intensität der persönlichen Themen der Drillinge. Anfangs lernen wir sie kennen und gehen davon aus, dass jede*r so vor sich hin lebt. Doch immer wieder greift der Roman gekonnt sehr wichtige Themen auf, die ihren verdienten Platz in der Geschichte finden. Darunter zum Beispiel auch Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Ängste sowie Kinderwunsch und Abtreibungen.

 
 
Ihre Eltern hätten noch nie zusammengepasst, meinte Matilda, die Farbtöne ihrer Seelen würden sich beißen. Das könne man in der Luft sehen, die sie umgab. 
- S.566

 



Liebenswerte und eigensinnige Figuren, verschiedene Handlungsstränge, die für Spannung sorgen und eine gefühlvoll rührende Familiendynamik, die reichlich Gesprächsstoff bereithält. Zusammen ergibt dies einen unfassbar lesenswerten Roman, der sich mit sehr wichtigen Themen beschäftigt, dabei aber auch sehr gelungen mit unterhaltsamen Einschüben für eine leichtere Stimmung sorgt.




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