Der Fremde aus Paris von Isabella Hammad

Oktober 06, 2020

Werbung ~ Rezensionsexemplar (Original: "The Parisian"/ 2019), Luchterhand Verlag (2020), Übersetzer/in: Henning Ahrens (aus dem Englischen), ★★★(★)☆ 3,5 Sterne
"Montpellier, zu Beginn des Ersten Weltkriegs: Als der junge Palästinenser Midhat von Bord eines Dampfers aus Alexandria geht, ist das für ihn der Aufbruch in eine strahlende Zukunft. Begierig wirft er sich in sein Medizinstudium, saugt die französische Kultur auf, verliebt sich in die emanzipierte Jeannette. Doch in den vom Krieg aufgeschreckten bürgerlichen Salons bleibt Midhat ein Fremder - und muss lernen, wie zerbrechlich alles ist: aus Freunden werden Feinde, aus Liebe wird Verrat. Er flüchtet sich in das exzessive Treiben in Paris und von dort zurück in die strenge väterliche Obhut nach Palästina. Doch auch aus seiner Heimat ist im Streben um Unabhängigkeit mittlerweile ein Pulverfass geworden..."
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Mag ich, aber zu lang. Das war der Gedanke, der am meisten Platz eingenommen hat. Zumindest hat es sich unfassbar lang angefühlt und das sollte eigentlich nicht das Empfinden sein, mit dem man solch einen Roman verlässt.
Hammad hat eine Geschichte geschrieben, die vieles sein will und sich für mich irgendwo auf halber Strecke teilweise verloren hat. Ich habe mich manchmal gefragt, was der Roman eigentlich sein möchte. Eine Liebesgeschichte, wie es auf dem Buchrücken deklariert wird? Eine Geschichte über die Suche nach der eigenen Identität? Über die Unruhen in Palästina? Mir waren die Verknüpfungen durchaus bewusst und an vielen Stellen fand ich sie auch geglückt, an vielen Stellen jedoch sprang der Funke einfach nicht über, sodass ich hätte sagen können, dass mich die Geschichte wirklich in den Bann gezogen hat. 

Midhats Jahre in Paris sind prägend. Bildung, Liebe, Freiheit, Frieden. Alles scheint er dort zu finden. Durch gewisse Umstände verlässt er allerdings die Stadt und zieht weiter. Ich dachte an diesem Punkt, dass die Geschichte dann "losgehen" würde. Doch dann folgte wieder ein neuer Strang und ein neuer Strang und ich fühlte mich so, als würde ich immer beinahe am gewollten Inhalt ankommen, bevor er sich mir wieder entzog. Das Gefühl, es nicht greifen zu können, blieb bis zum Schluss. Die Orte, die Figuren, die (inneren) Konflikte, alles war zwar präsent und wurde angesprochen, hat mich persönlich aber durch den Erzählstil einfach nicht überzeugt. In der Mitte des Buches war ich teilweise erschöpft von den vielen Beschreibungen, die mich nirgends wirklich hingeführt haben.

"'Nein', sagte Midhat, 'dazu hat er sich nicht geäußert. Ich finde, dass Palästina zu Syrien gehören sollte, weil Einheit mächtiger ist als Unabhängigkeit.' 
Das entsprach nicht seiner Argumentation in Paris, aber der Tenor der Fragen verriet ihm, dass diese Haltung in Nablus begrüßt wurde. Und die Parole 'Einheit ist mächtiger als Unabhängigkeit' hatte er in Faruqs Wohnung regelmäßig gehört, sie ging ihm also leicht über die Lippen." S.270
 
Ich kann nicht einmal sagen, dass mir die Figuren komplett egal waren, denn das waren sie nicht, aber während des Lesens kam nie das Gefühl auf, dass Midhat, der Protagonist, mich wirklich spüren lassen möchte, was in ihm vorgeht. Für mich blieb er teilweise auch ein Fremder, weil er selbst unsicher schien, wer er ist und wo er hingehört. Das ist sicherlich ein sehr wichtiger Aspekt für den Roman und die Botschaft als solches, wenn wir darüber reden, wie sich die Identität durch Midhats Reisen "verändert", aber führt dazu, dass das Verhältnis zwischen Figuren und Leser*innen immer recht kühl bleibt. 
Die Figuren um ihn herum und ihre Intentionen werden meist nur angerissen. Auch hier waren mir viele Persönlichkeiten daher nicht "intensiv" genug. Besonders in Hinblick auf die Kriegserfahrungen und die Unruhen im Land war ich überrascht, dass es etwas emotionslos herangetragen wurde. Viele Sätze wirkten wie Feststellungen, die natürlich aufzeigen wollen, wie schlimm die Situation war, aber dabei leider viel zu sachlich klangen. 

Was mir jedoch an dem Roman besonders gefiel war die leise Stimme, die einen mit einem sehr dünnen, aber doch roten Faden, durch die Geschichte gezogen hat. Wir bekommen hier und da Verweise wie auch Hinweise zugespielt, die sich vor allem auf Midhats und auch die Psyche von Jeanettes Mutter beziehen und einen sehr interessanten Strang eröffnen. Ebenfalls geglückt sind die Passagen, wenn es um eine erwähnte Uhr geht, die Midhat durch den Roman zu folgen scheint. Diese kleinen Details sorgen dafür, dass man zumindest an einigen Stellen das Gefühl bekommt, dass da eine Ebene ist, die etwas tiefer geht, als die bloße Erwähnung von Zahlen und einige Beschreibungen der Aufruhr. 
Da bereits zu Beginn ein Namensverzeichnis und zum Ende hin auch ein Glossar mit Schlüsselereignissen der Nationalbewegungen beigelegt wurde, hätte ich mir einfach gewünscht, dass die Geschichte noch stärker auf die persönliche Ebene gezogen wird und man die Figuren so greifbarer gemacht hätte.
 
"Liebe war ein Gebiet für sich und wurde in der Anthropologie kaum beachtet, weil sie kapriziös und schwer zu analysieren war. Manche erlebten sie als Krankheit, andere als Segen, je nachdem." S.118


Ein recht vollgepackter Roman, der mir in gewissen Aspekten gefallen hat, der sich aber leider im Großen und Ganzen doch etwas schwerfällig gelesen hat.  Midhat als Protagonist ist einerseits geglückt, weil er sich der Frage nach der "Fremdheit im (eigenen) Land" anschließt, aber gleichzeitig dafür sorgt, dass er bei Leser*innen ebenfalls an Distanziertheit dazugewinnt. Beobachtungen der Stadt oder der Nationalbewegungen und die Lebensgeschichte der Figuren wirkten für mich teilweise langatmig und viel zu stark voneinander losgerissen. Dennoch kann ich nicht sagen, dass mir der Roman als solcher beim Lesen nicht gefallen hat. Vielleicht hätte hier eine etwas kürzere, aber gezieltere Erzählweise mehr erreicht. Mir war es am Ende daher etwas zu lang und der Funke wollte nicht ganz überspringen.
 

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