Purity von Jonathan Franzen

April 16, 2020

(Original: "Purity"/ 2015) Fourth State (Harper Collins Imprint),  dt. Übersetzung: "Unschuld",  Übersetzer/in: -, ★★★☆☆ 3 Sterne
Die junge Pip Tyler weiß nicht genau wer sie ist. Sie weiß allerdings, dass ihr eigentlicher Name Purity lautet, sie dank des Studiums mit rund 130,000 Dollar Schulden belastet ist, derzeit sozusagen mit einer Gruppe Anarchisten in Oakland lebt und ihre Beziehung zu ihrer Mutter  - dem einzigen Familienmitglied, das sie kennt - als gefährlich bezeichnet werden kann. Aber sie weiß nicht, wer ihr Vater ist, warum ihre Mutter sich dazu entschieden hat, sich unter einem anderen Namen zurückzuziehen oder wie sie jemals dazu in der Lage sein soll, ein normales Leben zu führen.
Und dann gibt es da die "Deutschen", die unter der Leitung eines Friedensaktivisten, ein Auge auf Pip geworfen haben und sie nach Südamerika zur Teilnahme am Sunlight Project einladen. Diese Organisation setzt es sich zur Aufgabe, investigativ, die Geheimnisse der Welt zu enthüllen. Und dort hofft Pip auch Antworten auf ihre Fragen zu finden... Kann der charismatische Leiter Andreas Wolf ihr dabei helfen?
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"Her own body was still under the impression that something big was about to happen to it. Her heart went dunk, dunk, dunk as she watched the sky above the freeway turn from orange to indigo."  S.47

Also um es geradeheraus zu sagen: Dieser Roman hat nichts von "purity". Und doch ist es wohl so, dass jeder Charakter versucht, sich diesem Ideal irgendwie zu nähern. Sich durch das Leben, das sie gezeichnet hat loszusagen und in eine neue, unschuldige Richtung zu steuern - einen Neuanfang.
Die Idee hinter diesem Roman ist also durchaus vielversprechend, da sie stark auf die psychologischen Aspekte des Menschen fokussiert. Wer waren wir als Kind? Welche Taten unserer Eltern haben uns geprägt? Welche in uns feststeckenden Denkmuster und Handlungen können wir nicht von uns abschütteln, auch wenn wir es noch so sehr versuchen? Alles überaus interessante Fragen, die an vielen Stellen auch geschickt dargelegt werden. Doch irgendwie verliert sich dieser Roman auch in seiner eigenen Unvollkommenheit der Figuren.

Es gab viele Kapitel, die zum Kern des Ganzen vordringen wollten und bei denen ich mich schwer losreißen konnte. Geheimnisse, Vergangenheiten und bestimmte Beziehungen werden offenbart, sodass man das Gefühl bekommt, in einem Puzzle die letzten Teile zusammenzustecken, um das Ergebnis zu sehen, nur um dann leider von - für mich - sehr belanglosen und obszönen Körperlichkeiten von dem ganzen "Tiefergehenden" zurückgeschubst zu werden.

"'Secrets were power. Money was power. Being needed was power. Power, power, power: how could the world be organized around the struggle for a thing so lonely and opressive inthe having of it?” S. 539

Ich glaube das war auch mitunter eines der Hauptschwierigkeiten, die ich mit diesem Roman hatte, dass sich die Geschichte immer von sexuellen Reizen ablenken lässt.
Es gibt so viele Handlungsstränge, die sich mit (problematischen) Familienverhältnissen, paranoiden und psychologisch angekratzen Persönlichkeiten, Machtstrukturen und Intrigen beschäftigen, dass ich nicht verstehen konnte, wie immer alles nur auf die Begierde und irgendein sexuelles Interesse reduziert werden konnte - und das ständig. Immer und immer wieder, bei jeder Figurenkonstellation. Natürlich kann man nicht leugnen, dass es ein Aspekt des menschlichen Lebens und Miteinanders ist, aber als die ersten Stellen damit anfingen hatte ich einfach nur den Gedanken im Kopf: "Okay, typischer Männerroman". Klingt jetzt unfair, aber es blieb haften. Ich dachte irgendwann nur noch, wenn jetzt noch ein Mal der männliche Protagonist anfängt über seine Erektionen zu sprechen, während eine Frau versucht ihm etwas mitzuteilen, dann flipp ich aus. Ganz zu schweigen von den manchmal wirklich unnötigen Ausdrücken für weibliche Körperteile. Mehrfach musste ich hier die Augen rollen...

Und da setzt dann auch die nächste Überlegung von mir an. Die Inhaltsangabe stellt Pip Tyler in den Vordergrund, als sei es ihre Geschichte. Mit der Zeit wird aber schnell deutlich, dass es eine Geschichte von gefühlt zehn verschiedenen Figuren ist. Pip bildet nur das Grundgerüst, um auch in die Vergangenheiten blicken zu können. Die Idee war nicht ganz missglückt, denn dadurch offenbarten sich eben diese Tiefen, die man sich anfangs wünschte, aber es ist nun mal nicht nur Pips Geschichte.
Alles in allem war ich demnach immer in einem ausgewogenen "jetzt mag ich das Buch" - "jetzt mag ich es nicht" Gefühl gefangen. Dennoch mochte ich die Entfaltung der Geschichte, die sehr drastische Auseinandersetzung mit der eigenen (labilen) Psyche, die hier auch gelungen in Hinblick auf eine männliche und weibliche Figur ausgelegt wurde, die Verbundenheit zur Familie sowie dem Setting um das eigentliche Thema. Nämlich, dass Konzerne, Firmen und hier auch konkret in den Rückblenden, der Staat in Ostdeutschland (Stasi) mit Geheimnissen bezahlt wurden und diese eine gewisse Macht mit sich bringen können.

"'Ah yes, the blood on my hands.' David held his hands up for inspection. 'Funny, I´m not seeing it tonight.'
  'Look more cloesly', Anabel said. 'I can smell it.'"
S.390


Der Roman war wohl ein klarer Fall von Hass-Liebe. Viele Kapitel mochte ich aufgrund ihrer Entfaltung und der Vertiefung der Figuren sowie auch der Szenerie drumherum. Genauso gab es aber auch viele Kapitel und Passagen, die mich aufgrund ihrer Fokussierung auf das Sexuelle und die Triebe einfach nur gelangweilt und verärgert haben, weil der Roman dadurch wieder an Tiefe verliert, vor allem da die Figuren eine gewisse Komplexität in ihrer Beständigkeit offenbaren.

3 Kommentare:

  1. Schade, dass das Buch kein Volltreffer war und dich nur halbwegs überzeugen konnte. Ich kannte es bisher gar nicht, würde mich aber über ähnliche Aspekte ärgern.

    Zeilentänzerin

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    1. Ja, hatte mir irgendwie mehr erhofft...
      Manchmal denke ich, vielleicht bin ich zu streng, aber wenn es anderen ähnlich geht, "beruhigt" mich das etwas. :D


      Liebe Grüße
      Karin

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    2. Den Gedanken, ein Buch möglicherweise zu streng bewertet zu haben, kenne ich auch. Allerdings ist es ja vollkommen legitim, seine eigenen Gedanken zu dem Gelesenen zu äußern. Und es wäre ja auch total langweilig, wenn alle die gleichen Bücher favorisieren =)

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