Die einzige Geschichte von Julian Barnes

Juni 19, 2019



Werbung ~ Rezensionsexemplar (Original: "The Only Story"/ 2018) Kiepenheuer & Witsch (2019), Übersetzer/in: Gertraude Krueger (aus dem Englischen), ★★★★(☆) 4,5 Sterne
" »Würden Sie lieber mehr lieben und dafür mehr leiden, oder weniger lieben und weniger leiden? Das ist, glaube ich, am Ende die einzig wahre Frage.«
Die erste Liebe hat lebenslange Konsequenzen, aber davon hat Paul im Alter von neunzehn keine Ahnung. Mit neunzehn ist er stolz, dass seine Liebe zur verheirateten, fast 30 Jahre älteren Susan den gesellschaftlichen Konventionen ins Gesicht spuckt. Er ist ganz sicher, in Susan die Frau fürs Leben gefunden zu haben, alles andere ist nebensächlich. Erst mit zunehmendem Alter wird Paul klar, dass die Anforderungen, die diese Liebe an ihn stellt, größer sind, als er es jemals für möglich gehalten hätte"
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"Wenn das die einzige Geschichte ist, dann hat man sie auch am häufigsten erzählt und wieder erzählt, wenn auch - wie in diesem Fall - vor allem sich selbst. Dann lautet die Frage: Bringt einen dieses Erzählen und Wiedererzählen der Wahrheit näher, oder führt es weiter davon weg?" S. 12

Ziehe ich das obige Zitat zu meiner Meinung über den Roman hinzu, so wäre es bei mir der Fall, dass mich die genannten Wiederholungen näher an die Geschichte herangeführt haben. Je weiter die Geschichte vorangeschritten ist, desto mehr Erkenntnisse kommen dazu, ebenso viele fallen allerdings auch wieder weg. Es ist ein Kreis, der sich immer enger um den Protagonisten zieht und für ihn letztlich auch in einer eigenen Wahrheit mündet, die Aufschlüsse über viele Lebensentscheidungen offenbart.
Und wenn wir ehrlich sind, haben wir während unseres Lebens auch ständig solche Überlegungen. Welche Fehler unseres früheren (vielleicht auch derzeitigen) Verhaltens, unserer Vergangenheit haben uns etwas gelehrt? Welche offenbaren uns selbst eine verborgene Wahrheit, die man oft zu spät erkennt oder realisiert? Wovor würden wir uns selbst schützen wollen?
Julian Barnes´ sehr kluge, feine und an vielen Stellen schon erheiternde, aber auch ernste Art die Geschichte zwischen der Ich-Perspektive des Erzählers und einer distanzierten Erzählerform zu wechseln, eine Form, in welcher der Leser sich quasi aktiv in die Situation hineinversetzen soll oder muss, machen den Roman tatsächlich zu etwas Besonderem.
Aber: bei mir kam die eigentliche Begeisterung für den Inhalt und die Struktur erst im letzten Drittel auf. In diesem Abschnitt kommen die erzählten Wiederholungen zu einem Höhepunkt und das Leben, wie auch die Liebe, werden versucht anhand bestimmter Fragen greifbar und verständlich erscheinen zu lassen.

"Ich merkte nicht, dass in ihrem Inneren Panik herrschte. Wie hätte ich darauf kommen sollen? Ich dachte, nur in mir herrschte Panik. Heute erkenne ich - wenn auch ziemlich spät - , dass es allen Menschen so geht. Panik ist eine Begleiterscheinung unserer Sterblichkeit." S.112

Blicke ich auf die im Buch vorkommenden Themen und die Umsetzung derer, so gefielen mir einige besser als andere.
Die schon erwähnte Liebe ist natürlich das im Vordergrund stehende Thema, welches sich als Ausgangspunkt für alle folgenden Ereignisse und Entwicklungen, wunderbar mit dem Protagonisten vereinbaren lässt, wenn man das so sagen möchte. Für meinen Geschmack gab es hier wieder einmal viel zu viele sexuelle Anspielungen, die ich persönlich überflüssig fand. Beziehe ich natürlich den Erzähler mit ein, welcher zwischen seinem neunzehnjährigen Ich und seiner erwachsenen Version wechselt, ist es natürlich nicht verwunderlich, dass dies ebenfalls thematisiert wird. Dies passt einfach zur jugendlichen Entwicklung und setzt man sich mit dem Thema der Liebe auseinander, kommt man da nicht wirklich herum. Mir war es einfach manchmal zu viel. Es wird aber sicherlich viele Leser geben, die diese Einschübe nicht so zum Augenrollen bringen wie mich. Zum Ende hin werden diese zudem deutlich reflektierter und teilweise auch angenehmer, weil der Respekt gegenüber Frauen einen größeren Raum einnimmt und die gesellschaftlichen Fehltritte von Männern und deren Akzeptanz im Alltag ebenfalls im Fokus stehen.
Die sprunghaften Erzählzeiten, sprich zwischen der Jugend und dem Erwachsenenalter (und auch da gibt es immer wieder Einschübe, die nicht chronologisch sind), haben mir ganz gut gefallen. Sie spiegelten den allgemeinen Gedankenverlauf des Romans wider, dass man aufgrund seiner Erinnerungen und Erlebnisse, nie mit den Menschen der Vergangenheit abschließt. Irgendwann denkt man wieder über sie oder gewisse Situationen nach. Daher hat auch der Leser das Gefühl, dass es (überwiegend) keinen (gefühlsmäßigen) Abschied von den Figuren gibt.
Grundsätzlich fand ich zudem die männliche Sicht des Protagonisten sehr reflektiert, fortschrittlich und generell sehr angemessen. Ich hatte das Gefühl, dass man hier die bekannten (Gender-)Klischees aufbrechen möchte, bestehende Probleme (generationsbedingt) aber auch aufgezeigt werden.

"Das ist nur eine Metapher - oder der schlimmste aller Träume; aber es gibt Metaphern, die sich stärker ins Gedächtnis eingraben als erinnerte Geschehnisse." S.205


Geht viel tiefer, als man zuerst glauben vermag. Auch wenn der Roman stellenweise leicht und amüsant wirkt, da der Protagonist teilweise aus seiner jugendlichen Sicht erzählt, greift die Geschichte ernste Themen auf, die vielleicht nicht für jeden leicht zu ertragen sind. Dabei geht es um Alkoholabhängigkeit und körperliche Gewalt. Einen ebenso großen und wichtigen Punkt nimmt aber auch die Liebe ein. Was sie mit Menschen macht und wie sie sich auf unser ganzes Leben auswirken kann, ebenso wie das Fehlen dieser Liebe. Zunehmend kommen wir dem Protagonisten näher und ergründen seine Höhen und Tiefen. Bei mir kam es erst im letzten Drittel dazu, dass ich den Roman aufgrund seiner Struktur und thematisch sehr gelungen fand. Eventuell benötigen auch andere Leser etwas Geduld, um die Intention der gezielt erzählten Wiederholungen zu verstehen und zu mögen.


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