Das Adelsgut von Iwan Turgenjew

Dezember 30, 2018


Rezensionsexemplar ~ (Original: „dvorʲanskɔjɛ ɡnʲɛzdo“/ 1859) Manesse Bibliothek, Übersetzer/in: Christiane Pöhlmann (aus dem Russischen), ★★★★☆ 4 Sterne
„Fjodor Lawrezki kehrt nach Jahren im Westen in seine Heimat zurück, um das Gut seines Vaters zu übernehmen. Seine Ehe mit der selbstbezogenen Warwara ist gescheitert und Fjodor muss sich neu finden. Gegen seinen Willen verliebt er sich in Lisa, eine pflichtbewusste junge Frau, für die ihre Mutter eine ganz andere Partie vorgesehen hat. Der Beginn einer schwierigen Liebesgeschichte... .“

MEINE MEINUNG / FAZIT  

"Fjodor Iwanowitsch Lawretzki – wir bitten den Leser, den Fluss unserer Erzählung kurz unterbrechen zu dürfen – entstammte einem alten Adelsgeschlecht.” S. 50

Lange habe ich überlegt, was mich an Turgenjews Roman beeindruckt hat, was mich dazu gebracht hat, die Seiten mit Begeisterung umblättern zu lassen. Die Geschichte selbst war es tatsächlich nicht. Denn die unglückliche Liebesgeschichte hält nichts großartig Neues bereit, sie bedient sich der wohl klassischen Stadien eines nicht zu erreichenden (Liebes-)Glücks und dennoch schlägt man das Buch mit einem kleinen Seufzer zu.
Wenn es also nicht nur die Handlung ist die überzeugt, was liegt als Erklärung am nächsten? Der Erzählstil. Und genau hier setzen auch die Lobpreisungen für den Autor von den Kritikern ein. So sehr ich mich nicht von den geschätzten Stimmen, für Turgenjews Prosastil, einnehmen lassen wollte, umso klarer wurde mir, dass aber genau dies das ausschlaggebende Kriterium gewesen ist, weshalb ich den Roman so gerne gelesen habe.

"In Gesellschaft anderer Menschen fühlte er sich unbehaglich; mit seinen dreiundzwanzig Jahren und einem gedemütigten Herzen, das unbezähmbar nach Liebe dürstete, hatte er noch keiner Frau in die Augen zu blicken gewagt.“  S.84

Die Figuren im Roman haben mich oft an einen gewissen Rand der Verzweiflung gebracht. Für sie ist der Adel, das Ansehen, die Etiketten und das richtige Verhalten eigentlich alles was zählt. Man stellt seine eigenen Bedürfnisse und Wünsche hinten an, wenn es nicht schicklich ist oder Vorteile mit sich bringt.
Auch der Protagonist Fjordor war für mich nicht immer greifbar, stellenweise empfand ich ihn zwar nicht gänzlich als unsympathisch, aber als anstrengend, obwohl er schlichtweg versucht, ein einigermaßen geregeltes und gutes Leben zu führen. Irritierend war für mich allerdings auch etwas der Verwandtschaftsgrad von Lisa und Fjodor, denn sie ist die Tochter seiner Cousine - Damals war es nicht verwerflich wenn Cousins und Cousinen eine Heirat eingingen, um das Erbe zu retten oder Ähnliches, heutzutage liest es sich doch etwas merkwürdig.
Sicherlich trägt die Beschreibung der ersten Ehe mit Warwara dazu bei, dass sich die Handlung etwas spannender gestaltet, dennoch bleibt der Fokus auf dem Erzählstil und dieser erinnerte mich an eine Mischung vieler verschiedener literarischer Texte, wenn es um die Betrachtung der Zeit geht, sogar verstärkt an „Der große Gatsby“. Dabei ist Turgenjews Text sogar weitaus früher erschienen. In den Worten und Aussagen des Erzählers schwingt aber immer eine gewisse Melancholie mit, etwas Verletzliches und letztlich auch Moralisches. So sehr dem Leser die Handlung manchmal zu gewöhnlich erscheint, umso stärker gelingt es dem Erzähler, den Figuren eine zusätzliche Tiefe zu verleihen. Und besonders solche Einschübe wie auf den letzten Seiten: „Und das Ende?“ mag ein unzufriedener Leser fragen. „Was geschah dann mit Lawretzki? Mit Lisa?“ Doch was kann man über Menschen sagen, die, obgleich sie noch leben, ihr irdisches Dasein bereits beendet haben?“, lassen den Roman doch zu einem kleinen Schatz werden, bei dem man das Erzählgerüst betrachtet und sich so stark in die Protagonisten hineinversetzt, dass man deren Trauer, Verlust, wie auch vielleicht kleinen Hoffnungsschimmer mit voller Wucht spürt.

“’Du kriegst nicht eine Minute zum Verschnaufen, nicht eine Sekunde!’, donnerte Michalewitsch und unterstrich seine Worte mit einer Geste. ‚Nicht eine Sekunde! Der Tod wartet nie, und das Leben darf man nicht warten lassen!‘“ S. 160


Ein, in Bezug auf die Handlung betrachtet, leiser Roman eines der bedeutendsten russischen Autoren, welcher durch seinen Erzählstil und seine Verletzlichkeit zu etwas ganz Besonderem wird. Vielleicht nicht für Leser geeignet, die sich eine wahnsinnig innovative Geschichte erhoffen, aber sicherlich für alle, die außergewöhnliche Erzählerstimmen lieben und sich träumerischen und ausdrucksstarken Beschreibungen hingeben können.


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