(Original: "We are All Completely Beside Ourselves") von Karen Joy Fowler, Manhattan Verlag: Bibliographie auf der Verlagsseite >>, 352 Seiten, gebunden, ★★★★★ 5 Sterne
"Hattest du als Kind auch diesen Moment, in dem dir plötzlich klar wurde, dass deine Familie verrückt ist?
Es war einmal ein Haus mit einem Garten, in dem wohnten ein Apfelbaum, ein Bach und ein kleine Katze mit mondgelben Augen. Hier wachsen drei Kinder auf: Rosemary, ihre ungestüme Schwester Fern und ihr großer Bruder Lowell. Sie könnten eine ganz normale Familie sein. Wäre ihr Vater nicht Wissenschaftler, und wäre Fern nicht ein ganz besonderes kleines Mädchen, das Wachsmalstifte verspeist, den perfekten Rückwärtssalto beherrscht und lacht wie eine Säge. Jahre nach Ferns Verschwinden erzählt Rosemary nun deren Geschichte. Denn erzählen war das Einzige, was Fern nie konnte."
MEINE MEINUNG | FAZIT
"Denkt mich also als endlose Quasselstrippe, bis ich euch sage, dass diese Zeit vorbei ist." S. 71
Kennt ihr dieses Gefühl, wenn ihr auf ein Buch wartet, dass euch so mitreißt und mitfühlen lässt, ihr selbst aber noch nicht wisst, wie es genau aussehen soll? Genau dieses Phänomen hat dieses Buch bei mir ausgelöst! Als ich begonnen habe das Buch zu lesen, dachte ich es würde nur in kleines Buch für zwischendurch werden. Eine kleine, nette, unterhaltsame Geschichte, aber nicht unbedingt mit viel Tiefgang. Doch es kam ganz anders. Unterhaltsam, ja. Das ist das Buch definitiv. Aber es ist zusätzlich auch noch so viel mehr als das. Es ist gefühlvoll, spricht Themen an, denen man eigentlich nicht wirklich tagtäglich über den Weg läuft und skizziert ein Familienleben, welches so einzigartig ist, dass man es gar nicht unsympathisch finden kann. Ich war, als sich die Zusammenhänge der Geschichte, etwas gelichtet haben, erst einmal etwas verblüfft. Denn die Geschichte überrascht mit einem Detail, was ich überhaupt nicht erwartet hätte. Dieses Detail führt aber dazu, dass die Geschichte eine Eigendynamik entwickelt, die dazu verleitet immer weiterzulesen.
"Schuld daran ist die Sprache, denn sie tut der Erinnerung etwas an. Sie vereinfacht, sie konkretisiert, kodifiziert und mumifiziert das bloß Erinnerte. Eine oft erzählte Geschichte ist wie ein Foto in einem Familienalbum. Irgendwann ersetzt es den Moment, den es eigentlich nur festhalten sollte." S. 61
Die Hauptfiguren sind Rosemary und Fern. Zwei Geschwister, die unterschiedlicher und auch paradoxerweiser ähnlicher nicht sein könnten. Der Leser wird auf eine Erzählreise genommen, die veranschaulichen soll, welche Vorfälle dazu führten, das ein Familienmitglied nicht mehr bei ihnen wohnt. Aber meiner Meinung nach spielen nicht nur die beiden Schwestern eine große Rolle, sondern eigentlich jeder Charakter lässt die Geschichte so lebendig erscheinen. Es gibt so viele kleine Einzelheiten, die einen zum lachen bringen. Für mich war zum Beispiel, die Handpuppe Madame Defarge ein echtes Highlight. Ich habe mich wirklich gefragt, wie man auf solche Ideen kommt und wie es sein kann, dass ich als Leser diese Idee so fabelhaft finde, dass ich das Buch direkt mit der größten Punktzahl bewerte!? Es war einfach grundsätzlich eine gewisse Stimmigkeit zwischen dem Buch und mir vorhanden. So viele Dinge wurden angesprochen, Fragen, Aussagen, Konversationen, die ich genauso empfinde und mich auch öfters gefragt habe, ob nicht jemand anders über dies genauso denkt.
"Das menschliche Hirn betrachtete er als eine Art Wundertüte zwischen zwei Ohren." S. 108
Den Schreibstil empfand ich als sehr angenehm und fließend. Es gibt zwar einige Zeitsprünge, die die Protagonistin aber bewusst einleitet und die auch gänzlich zu der Geschichte passen. Es zieht sich ein roter Faden durch die Aussagen, dass manche Geschichten schlicht und einfach ab der Mitte erzählt werden und auch dort aufhören [Wenn ihr das Buch lest, werdet ihr es verstehen :)]. Es gibt zwischen den großen Abschnitten, jeweils immer ein kleines Zitat aus einem Werk von Kafka. Ich werde euch jetzt nicht verraten aus welchem Werk, denn dann würde man vielleicht zu viel vorweg nehmen.
Die Geschichte nimmt zudem sehr starken Bezug auf das Verhältnis zwischen den Tieren und dem Menschen. Es geht um die Wahrnehmung; Die eigene und auch die, die andere von uns haben. Kann man sich dann sicher sein, dass man der ist, der man denkt, der man ist? [Genau solche Fragen tauchen auch in dem Buch auf]. So hat die Geschichte ebenfalls einen philosophischen, wie auch psychologischen Kern und ist damit alles andere als eine gewöhnliche "Les ich schnell mal durch" Geschichte. Ich für meinen Teil hätte gerne noch viel mehr über die Familie Cooke erfahren. Es fiel mir sehr schwer, mich am Ende des Buches von Rosemary zu "verabschieden". Ihr Charakter war einfach unfassbar packend und interessant. Ich hoffe, ich werde mir in diesem Jahr, noch einmal die Zeit nehmen und das Buch ein zweites Mal lesen können!
"Geld ist das niederträchtige Herrschaftsinstrument der wenigen mit Geld über alle diejenigen ohne Geld, des Kaisers neue Kleider von globaler Passform." S. 257
Obwohl die komplette Geschichte von Rosemary erzählt wird, als sie [ich glaube] dreißig ist, versprüht die Geschichte eine solche Leichtigkeit, als wäre es die Rosemary, von der sie erzählt, als sie jeweils fünf, elf und älter war. Man kann sich die Protagonistin gar nicht wirklich als erwachsene Frau vorstellen, weil es immer einen Anteil gibt, der eben noch kindlich naiv, aber positiv naiv wirkt. Für mich ist die Protagonistin eine so wundervolle, spannende und unterhaltsame Erzählerin, dass mir die Geschichte wahrscheinlich auch schon gefallen hätte, wenn sie nur über ihr Frühstück berichtet hätte.
"Unsere Welt, sagte Lowell zum Schluss, läuft wie geschmiert, und das Elend der Tiere hat damit zu tun. Die Leute wissen das auch, haben aber nichts dagegen, solange sie damit nicht konfrontiert werden. Sie sind sogar empört, wenn sie nicht mehr wegschauen können, aber sie hassen denjenigen, der sie zwingt hinzuschauen." S. 261
Lustig, gefühlvoll, packend und nachdenklich. Einfach ein All-round Paket. Nimmt Bezug auf viele Fragen im Leben und geht stark auf die zwischenmenschliche, wie auch menschlich-tierische Beziehung ein.
Hey Karin,
AntwortenLöschenDieses Buch habe ich schon seit letztem Sommer auf Englisch auf meinem SuB und im Moment habe ich dringend vor es endlich mal zu lesen!
Deine Rezi ist wirklich schön und hat dafür gesorgt, dass ich es jetzt nur noch mehr lesen will! :)
Außerdem ist das Cover ja wirklich wunderschön, oder? *-*
Find es total toll, dass sie es im deutschen so gelassen haben :)
Alles Liebe,
Sarah <3
Ich mag das Cover auch sehr und freu mich auch wenn die englischen [schönen] Cover dann übernommen werden :D Ich bin sehr gespannt, wie du es finden wirst!
LöschenLiebe Grüße,
Karin