Schischyphusch oder der Kellner meines Onkels von Wolfgang Borchert

März 11, 2016

(Original: "Schischyphusch") Atlantik, 64 Seiten mit Illustrationen, ★★★  4  Sterne
"Der Onkel groß, laut, reich, satt; der Kellner klein, blass, verbittert, verängstigt. Was die beiden Männer eint, ist ihr Sprachfehler. An einem sonnigen Sommertag geraten sie in einem Gartenlokal aneinander, jeder glaubt, vom anderen nachgeäfft und verhöhnt zu werden. Der selbstbewusste Onkel ist empört über das frevelhafte Verhalten des Kellners, der Kellner nimmt die Demütigung hin, so wie er es schon sein ganzes Leben lang gewohnt ist, und der Erzähler wird Zeuge einer Begegnung zweier Welten. Am Ende hat der Kellner einen Freund fürs Leben gefunden. Wolfgang Borcherts wohl rührendste Erzählung, liebevoll illustriert von Birgit Schössow. "
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"So standen sie nun und sahen sich an. Beide mit einer zu kurzen Zunge, beide mit demselben Fehler. Aber jeder mit einem völlig anderen Schicksal."

Vierundsechzig Seiten, Illustrationen und eine Geschichte, die zunächst ganz lustig erscheint. Der Neffe des besagten Onkels erzählt nämlich, wie der Kellner und sein Onkel aufeinandertreffen. Dadurch wirkt die Geschichte natürlich an einigen Stellen etwas naiv, beziehungsweise die Sprachwahl ist etwas verspielt.  Allerdings wird auch deutlich, dass der Text unter der Oberfläche Themen anspricht, die zwar auf unterhaltsame Weise geschildert werden, aber dennoch eine wichtige Aussage vermitteln wollen. Borchert gilt bekanntlich als einer der wichtigsten Autoren der Nachkriegsliteratur. Auch in diesem Buch findet man Hinweise auf Bezüge zum Krieg. Nicht zuletzt durch die, doch sehr unterschiedliche Weise, wie beide Charaktere zu ihrem Sprachfehler gekommen sind. Der Kellner besitzt den Sprachfehler von Geburt an, der Onkel jedoch wurde im Krieg verwundet. Deutlich zu erkennen sind dadurch auch die Unterschiede in den Verhaltensweisen, wie beide damit umgehen. Ich muss zugeben, bei dem ersten Lesedurchgang habe ich die Geschichte als unterhaltsame Anekdote angesehen. Daher habe ich beim zweiten Versuch auf ganz andere Dinge geachtet. So wird dem Leser schon deutlich, dass vielleicht die ein oder andere Interpretation notwendig ist, um den eigentlichen Kern zu erkennen. Sicherlich ist der Text aber keineswegs traurig, im Gegenteil. Er soll vor allem Mut spenden, um die eigenen Schwächen, als Stärke auszuarbeiten. Natürlich wird auch das Aufmunternde dadurch verstärkt, dass es um die Erzählung einer, sich später entwickelten Freundschaft handelt. So ist das kleine Büchlein sicherlich mit humoristischen Elementen ausgestattet und unterhält den Leser in erster Linie.

"Tausendmal am Tag bei jeder Bestellung an jedem Tisch, bei jedem >> bitte schehr<< kleiner, immer kleiner geworden. Die Zunge, gigantischer unförmiger Fleischlappen, die viel zu kurze Zunge, formlose zyklopische Fleischmasse, plumper unfähiger roter Muskelklumpen, diese Zunge hatte ihn zum Pygmäen erdrückt: kleiner, kleiner Kellner!"

Beide Figuren vermitteln jedoch gegensätzliche Typen in der Gesellschaft. Der Kellner wird immer als klein und unscheinbar beschrieben. Er muss andere Leute bedienen und steht sozusagen im Schatten anderer (nicht zuletzt eben auch durch den angeborenen Sprachfehler). Der Onkel hingegen wirkt selbstsicher, ist laut und offen. Er ist der Held, der aus dem Krieg mit Verletzungen zurückgekommen ist. Zudem tritt noch das Symbol des Sisyphus auf (nicht nur im eigentlichen Text, sondern auch im Titel), der auf gewisse Charakterzüge des Kellners hinweisen soll. Man kann die Geschichte durchaus so auslegen, dass sie stets um den Kern der Freundschaft und der Verbundenheit kreist, aber ich denke, dass man auch zwischen den Zeilen einige Anspielungen auf andere Themen findet. Dabei habe ich den Text aber so empfunden, dass man als Leser sehr stark selbst interpretiert und sich die entscheidenenden Elemente der Geschichte selbst zusammensetzt. Daher denke ich, dass die Geschichte neben der Unterhaltung sehr vielfältig und auch sprachlich mit vielen bildlichen Elementen versehen ist. Die Sprache der beiden Figuren deutet den Sprachfehler nicht nur an, sondern in der wörtlichen Rede, wird der S-Fehler stets aufgegriffen und miteinbezogen.
Zu den Illustrationen muss ich kaum noch etwas hinzufügen, denn sie sprechen quasi für sich. Ich finde, sie sind eine wunderschöne Ergänzung zu der Geschichte, auch wenn ich mich manchmal gefragt habe, ob die Handlung dadurch nicht zu oberflächlich wirkt. Jedoch passt sie wunderbar in Bezug auf den Erzähler, nämlich den Neffen, der schließlich alles aus seinem Blickwinkel darlegt.

"Schischyphusch war nämlich mein Schpitschname. Ja, in der Schule schon. die ganzsche Klasche nannte mich scho." 


Tolle, illustrierte Ausgabe einer liebevollen Kurzgeschichte. Ist heiter und thematisiert eine aufblühende Freundschaft zweier Männer, die mit demselben Sprachfehler zu "kämpfen" haben. Mir gefiel das Zusammenspiel aus Text und Gestaltung, da die Geschichte dadurch verschiedene Blickwinkel eröffnet. Der Text an sich ist zwar schon bekannt, wirkt aber in dieser Ausgabe lebendiger denn je.


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