(Original: "Memory Wall" ) C.H. Beck Verlag: Bibliografie auf der Verlagsseite (C.H. Beck Verlag) » , 135 Seiten, gebunden, Einzelband, ★★★(☆)☆ 3 bis 4 Sterne
"Unser Leben, unsere Welt werden durch unsere Erinnerungen zusammengehalten. Was geschieht mit uns, wenn wir sie verlieren, und welche Möglichkeiten tun sich auf, wenn andere unsere Erinnerungen wiederbeleben können? Der 74-jährigen Alma Konachek, die in einem Vorort von Kapstadt lebt, widerfährt genau dies. Sie verliert ihr Gedächtnis. Unbekannte brechen mehrfach in ihr Haus ein, auf der Suche nach Hinweisen zu einem spektakulären Fossilienfund ihres plötzlich verstorbenen Mannes. Denn Alma hat eine Wand voller Fotos, Gedächtnisstützen, Speichermedien, in der sich irgendwo der fehlende Hinweis zu dem gesuchten Fossil befindet."
MEINE MEINUNG | FAZIT
"Auf einer halben, aus einer Broschüre gerissenen Seite ist ein Satz mehrfach zittrig unterstrichen: Erinnerungen sind nicht in den Zellen gespeichert, sondern im extrazellulären Raum" S. 14
Memory Wall ist eine Novelle, bestehend aus hundertfünfunddreißig Seiten. Mir war also durchaus bewusst, dass das Buch die Charaktere und die Handlung nicht ins kleinste Detail beschreiben kann und sich so keine tiefere Gefühlswelt entwickelt, wie bei einem achthundert Seiten Werk. Nichtsdestotrotz finde ich, dass Anthony Doerrs kleines Werk durchaus Potenzial hat. Wenn man Bücher mag, die einem einen Denkanstoß geben, ohne zu ausschweifend zu werden und sich mit den menschlichen Erlebnissen, wie auch dessen "Aufbewahrung" beschäftigen, dann ist das Buch sicherlich eine gute Wahl. Doerr erzählt eine Geschichte, die das Schicksal vieler verändert beziehungsweise beeinflusst und das nur, durch den Versuch an Erinnerungen zu gelangen. Soweit ich weiß (ich wäre zumindest sehr überrascht, wenn es doch so wäre), stützt sich Doerr auf eine Zukunftsvision, die weitreichende Folgen haben könnte. Dabei steht die Wiederbeschaffung der eigenen, wie auch anderer, Erinnerungen an erster Stelle. Als ich das Szenario in dem Buch mit verfolgt habe, wurde mir ganz "mulmig" zumute. Man geht schließlich davon aus, dass wenigstens die eigenen Erinnerungen nur einem selbst gehören. Doch was wäre, wenn andere diese ebenso abspielen könnten, wie einen Film? Ich lese normalerweise keine Science Fiction Literatur, sodass dieses Thema erst in Doerrs Werk, meine Beachtung geschenkt bekommen hat. Sicherlich haben sich schon andere mit solchen Themen auseinandergesetzt, aber ich mochte vor allem Doerrs klare Sichtweise und die harten Tatsachen, die folgen würden. Es gibt keine Ausschmückungen, sondern nur die Kette, die in Gang gesetzt wird, wenn solche Dinge möglich wären.
"Alte Menschen in Pflegeheimen, so wird berichtet, benutzen Erinnerungsgeräte wie Drogen und schieben die immer gleichen Kassetten in sie hinein [...]. [...] Sie lebt weniger in dieser Welt, als in einer synthetischen Technicolor-Vergangenheit, deren vergessene Momente durch Kabel in sie dringen." S.25
Die Kapitel sind recht kurz, unterteilen sich aber in gut gegliederte Abschnitte. Einige Kapitel bauen dabei mehr Spannungen auf, als andere. Wobei ich die fließenden, ruhigen Passagen mochte. Durch die Länge des Buches, ist es wir gesagt schwer, alle Figuren richtig einzuschätzen und all ihre Absichten offenzulegen. Dennoch tendiert man schnell dazu, gewisse Protagonisten als sympathischer einzustufen. Ich war überrascht, dass mir Alma so unsympathisch war, denn man würde denken, sie wäre in der Geschichte diejenige, die das "harte Schicksal" zu erleiden hat. Die gesamte Konstellation der Figuren gefiel mir durchaus gut. Auch wenn einige nur am Rande erwähnt werden, spiegeln sie das Leben genauso wider. Die Kapitel werden nicht nur aus der Sicht einer Person erzählt, sondern sind ein Kollektiv aus allen Protagonisten. Sie formen und ergänzen die aufgeworfenen Bruchstücke der Erzählungen und Erinnerungen. Die Verknüpfungen der einzelnen Schicksale fand ich gut durchdacht und auch nachvollziehbar. Nach und nach werden dem Leser neue Fortschritte offenbart, die man hinterfragt und über die man, in Bezug auf sich selbst, nachdenkt. Mir gefiel auch der Aspekt, dass Doerr sich nicht nur auf die Idee mit den Erinnerungen beschränkt, sondern gleichzeitig die gesellschaftlichen Probleme in Kapstadt thematisiert. Das Buch bietet so eine weite Fläche an Anhaltspunkten, die zum Nachdenken anregen. Obwohl ich sagen muss, dass ich die Idee und die Umsetzung allgemein überzeugend und gut gelungen finde, hätte ich mir manchmal gewünscht, dass Doerr dieses Konzept nicht nur als kurze Novelle verfasst hätte. Denn das Thema bietet wirklich sehr viel Raum und Potenzial um wenigstens etwas weiter vertieft zu werden. Eines ist aber ganz sicher: Dem Leser wird durch die Lektüre sehr wohl bewusst, wie wertvoll Erinnerungen sind oder sein sollten.
"Das Leben einer alten Frau wird zum Leben eines jungen Mannes. Der Erinnerungsbeobachter wird zum Erinnerungsbewacher" S. 93
Stellt die Frage in den Vordergrund, wer wir ohne unsere Erinnerungen sind und wer wir sind, wenn wir uns der Erinnerungen anderer berauben. Trotz der Kürze an einigen Passagen sehr gefühlvoll. Hätte meiner Meinung nach aber auch das Potenzial gehabt, weiter ausgearbeitet zu werden. Als Lektüre für Zwischendurch und für neue Gedankenanstöße sehr geeignet.
Das klingt vom Thema her wirklich spannend, ich frage mich gerade aber auch, wie man das wohl in nur 135 Seiten wirklich gut verarbeiten kann. Wenn dann auch noch Sachen wie die gesellschaftlichen Probleme Kapstadts dazukommen, ist da leider wirklich nicht viel Platz, um mit dem Thema sehr in die Tiefe zu gehen. Neugierig bin ich jetzt allerdings schon geworden. Hab gerade gesehen, dass es das Buch auch als Ebook gibt, das wird gleich mal für die nächste Zugfahrt vorgemerkt. Ich mag Science Fiction eigentlich ganz gerne, vor allem, wenn es in eine Richtung geht, die einen zum Nachdenken anregt. Allerdings endet das dann meist mit mulmigen Gefühlen. Es gibt wirklich erschreckende Zukunftsvisionen und viele sind leider gar nicht mal so abwegig.
AntwortenLöschenJa, das Buch gibt "leider" nur einen kurzen Einblick in das Geschehen. Ich glaube daraus hätte man auch etwas "größeres" machen können, aber so für eine Zugfahrt, als Anregung finde ich das Buch schon ganz gut. : )
LöschenLiebe Grüße,
Karin