(Original: "Boston, a Contemporary Historical Novel"/ 1928) Manesse Verlag, Übersetzer/in: Viola Siegemund (aus dem Amerikanischen), 1.040 Seiten, gebunden, ★★★★(☆) 4 bis 5 Sterne
"Vom Tellerwäscher zum Märtyrer – die Namen Sacco und Vanzetti stehen für den Wirklichkeit gewordenen amerikanischen Alptraum. Ihr Schicksal erschütterte Millionen Menschen weltweit in ihrem Glauben an Recht und Ordnung. Upton Sinclair, engagierter Romancier und Gesellschaftskritiker, inszenierte die realen Geschehnisse der Zwanzigerjahre als fesselndes literarisches Epochendrama.
Glamour, Jazz und endlose Partys: Das waren die Roaring Twenties. Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit – Upton Sinclair zeigt uns die ganze. Denn während die Happy Few feierten, wurden die Massen mittels brutaler Klassenjustiz niedergehalten. Am Beispiel der einflussreichen Ostküsten-Sippe Thornwell zeigt «Boston», wie das System staatlich sanktionierter Korruption funktionierte. Als Kulminationspunkt dient der Schauprozess gegen die zwei bekanntesten Justizopfer der amerikanischen Geschichte, Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, die 1927 wegen Mordes hingerichtet wurden. In diesem ergreifenden Buch geht es um die moralische Glaubwürdigkeit offizieller Repräsentanten und Institutionen, um Menschenliebe und Bürgerpflicht, um Gerechtigkeit und den Mut zur Wahrheit."
"Jetzt, da Cornelia
Thornwell dieses System in Aktion erlebte, schüttelte sie entgeistert
den Kopf. Weshalb waren die Reichen, denen sie sich nach wie vor
zugehörig fühlte, nur so blind? Wie konnte man den Arbeitern nur jedwede
Achtung vor Recht und Gesetz rauben, ohne einen Gedanken an die
Konsequenzen zu verschwenden? Was sollte das Gerede von Amerikanisierung, wenn man den einfachen Leuten in Krisenzeiten sämtliche Bürger-, ja sogar Menschenrechte absprach?“ S.99
"Boston" ist eine Mischung aus Fakt und Fiktion und dennoch hinterließ das Buch bei mir nichts als das Gefühl der kompletten und wahrhaftigen Darstellung der (auch heutigen) Gesellschaft. Der Kampf der "kleinen Leute" steht genauso im Vordergrund, wie die korrupten Machenschaften der Reichen und die damit einhergehende Käuflichkeit von "Wahrheiten" untereinander.
Der Roman besteht aus einem Handlungsstrang, beinhaltet aber zwei Sichtweisen, die ausgehend von der Protagonistin Cornelia Thornwell, aufgegriffen werden. Sie gehört zwar zur Oberschicht, fühlt sich aber im weiteren Verlauf des Romans immer stärker zu den "Arbeitern" hingezogen, da sie durch Ehrlichkeit und Fleiß herausstechen.
Der Roman besteht aus einem Handlungsstrang, beinhaltet aber zwei Sichtweisen, die ausgehend von der Protagonistin Cornelia Thornwell, aufgegriffen werden. Sie gehört zwar zur Oberschicht, fühlt sich aber im weiteren Verlauf des Romans immer stärker zu den "Arbeitern" hingezogen, da sie durch Ehrlichkeit und Fleiß herausstechen.
Es ist nicht so einfach, den fast tausendseitigen Roman in einer relativ kurzen Rezension wiederzugeben, denn Upton Sinclair vereint hier wirklich sehr viele Aspekte, die eine tragende Rolle für die Figurenkonstellation und auch das Mitgefühl für viele Parteien spielen. Sicherlich ist daher auch davon auszugehen, dass viele Figuren auftreten und man sich erst nach und nach an das gesamte Konstrukt gewöhnt beziehungsweise, dass man sich damit gut auskennt. Die, wie man auch durch das Nachwort erfährt, anfängliche fiktive Einleitung, in welcher Cornelia Thornwell und ihre Familie, wie auch ihre gesellschaftlichen Normen und Pflichten vorgestellt werden, scheint sich anfangs etwas zu ziehen. Erst ab etwa Seite zweihundertundfüfnzig wird auf den folgenden Prozess und die mutmaßlich von Vanzetti und Sacco begangene Straftat angesprochen.
Auch im Nachhinein geht Upton Sinclair wirklich sehr genau und detailliert auf viele im Prozess gefallene Fakten ein, sprich die Zeugenaussagen, die Ungereimtheiten und auch die wiederholt eingelegten Berufungen, wie auch die verlangte Wiederaufnahme des Falls. Einiges wird also zwangsläufig irgendwann doppelt erwähnt oder etwas weiter ausgebreitet. Allerdings muss ich dazu sagen, dass diese Art der Wiederholung keineswegs zu Langweile geführt hat oder überflüssig ist. Dadurch wird dem Leser erst deutlich, wie makaber dieses Spiel des Gerichts ist und wie sinnfrei dieser Prozess teilweise vonstattenging. Obwohl der Roman also eine beträchtliche Seitenzahl aufweist, kam es an keiner Stelle zu dem Gefühl, etwas überspringen zu wollen.
Zudem greift der Roman Schlüsselstellen sehr gut auf, die sich in der Zukunft abspielen und die nicht noch einmal explizit am Ende des Buches zum Beispiel durch ein Extrakapitel hervorgehoben wurden. Nachweisliche Irrtümer seitens der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts fließen also als vorausschauende Kommentare mit ein, was das Ganze deutlich attraktiver macht.
"' Wir sitzen alle hinter Gittern, Mrs. Thornwell. Nach zwanzig Jahren als Anwalt weiß ich, wovon ich spreche - wir sind Gefangene des Systems. Um mein Handgelenk liegt eine schwere Kette, und am anderen Ende hängen so viele Lügen wie in allen sieben Höllen Dantes zusammen.“ S.372
Ebenso fand ich es wirklich erstaunlich, wie "echt" sich die entstandene Beziehung zwischen Cornelia Thornwell, Vanzetti und Sacco angefühlt hat. Über Vanzetti und Sacco wurde natürlich während des Verfahrens und auch Jahre danach viel Bericht erstattet, sodass man sich ein etwas genaueres Bild der Männer hätte machen können. Umso erstaunlicher aber, dass Upton Sinclair mit der "gehobenen Lady" einen Charakter geschaffen hat, der sich wunderbar mit den beiden anderen Figuren vereinbaren lässt. So traurig und wütend den Leser diese Hetzjagd gegen die Angeklagten macht, so warmherzig und mitfühlend empfindet man eben viele Stellen, in denen sich diese Kluft zwischen den "Reichen" und "Armen" schließt und man merkt, dass es nicht immer in einem Krieg hätte enden müssen. Vielleicht hätte es damals wirklich eine Cornelia gebraucht, um das Ende neu schreiben zu können.
Der Roman hat mich daher wirklich, vor allem auch zum Ende hin sehr mitgenommen. Erstaunlicherweise hat mich aber eben auch zu diesem Zeitpunkt eine gewisse Wut gepackt, denn die Träume, die die Figuren Vanzetti und Sacco hinsichtlich dieser sinnlosen Hinrichtung hegten, nämlich, dass dieser "Kampf der Klassen" irgendwann ein Ende haben könnte, scheint heutzutage immer noch in weiter Ferne. Als hätte man seit damals immer noch nichts gelernt. Die "kleinen" Leute schuften immer noch, um den schon reichen Leuten noch mehr in die Taschen zu stecken. Vielleicht ist es auch der Grund, warum ich das Buch jedem empfehle, auch wenn er sich aufgrund der Länge nicht als "Zwischendurchlektüre" eignet. Er regt wieder dazu an, sich nicht einfach diesem System unterordnen zu wollen. Man würde gerne selbst mit einem Schild, auf dem steht "We want justice (for Vanzetti and Sacco)" losmarschieren und dieser sinnlosen Gier nach Geld, Geld und noch mehr Geld ein Ende bereiten.
" 'Einen großen Gefallen, meinen letzen Wunsch... ist aber nicht leicht.'
'Raus mit der Sprache!'
'Seien Sie nicht so traurig.'
'Ach, Bart!'
'Sterben ist einfach. Wirklich, ist keine große Sache... bloß die Freunde, vor allem die Frauen - alle trauern sie, und weinen um uns. Dabei ist es - wie sagt man - unnütz. Trauern ist die unnützeste Sache von der Welt. Oder etwa nicht?'" S.934
'Raus mit der Sprache!'
'Seien Sie nicht so traurig.'
'Ach, Bart!'
'Sterben ist einfach. Wirklich, ist keine große Sache... bloß die Freunde, vor allem die Frauen - alle trauern sie, und weinen um uns. Dabei ist es - wie sagt man - unnütz. Trauern ist die unnützeste Sache von der Welt. Oder etwa nicht?'" S.934
Ein sehr starker, wenn auch etwas längerer Roman, der durch das Zusammenspiel von Fakt und Fiktion wunderbar funktioniert. Die Intrigen der Justiz, wie auch der "Kampf der Gesellschaften" werden gut hervorgehoben und sorgen für teilweise wirkliches Entsetzen beim Leser, sodass man sich ständig fragt, wie diese Anklage und Hinrichtung überhaupt möglich sein konnte und sich gleichzeitig ähnliche Fälle in unserer jetzigen Gesellschaft hinzuzieht. Der Roman wühlt definitiv auf, ist aber auch an vielen Stellen sehr "friedlich".
Diese Harmonie kommt vor allem bei den Passagen rund um Vanzetti und Sacco selbst auf, denn sie lassen sich von fast nichts aus der Ruhe bringen und verkörpern, trotz der Ungerechtigkeit die ihnen wiederfährt, eine gewisse schicksalshafte Gerechtigkeit.
Diese Harmonie kommt vor allem bei den Passagen rund um Vanzetti und Sacco selbst auf, denn sie lassen sich von fast nichts aus der Ruhe bringen und verkörpern, trotz der Ungerechtigkeit die ihnen wiederfährt, eine gewisse schicksalshafte Gerechtigkeit.
Und auch vor Upton Sinclair ziehe ich meinen Hut, dass er diese schwierigen Schicksale und die Konflikte, auf eine gewisse sachliche, aber dennoch auch gut portionierte, parteiische Weise verarbeitet hat.
Das klingt wunderbar und wirklich spannend und faszinierend.
AntwortenLöschenNeri, Leselaunen