Thaddeus und der Februar von Shane Jones

Juli 23, 2016


(Original: "Light Boxes"/ 2010) Übersetzer/in: Chris Hirte, mit zahlreichen Illustrationen von Ria Brodell,  ★★★★☆ 4 Sterne
 
"Viele hundert Tage schon währt die kalte Herrschaft des Februars: Der Wechsel der Jahreszeiten ist außer Kraft gesetzt, finstere Priester patrouillieren, Papierdrachen dürfen nicht mehr zum Himmel aufsteigen, Kinder verschwinden im Wald. Traurigkeit legt sich über die Stadt wie der Schnee, der endlos fällt, doch die Erinnerung an warme Tage lebt weiter. Die Stadt beschließt, in den Kampf zu ziehen, den Winter zu besiegen, und Thaddeus, der Ballonfahrer, soll ihr Anführer sein. Doch dann stößt Thaddeus in einer Hütte am Waldrand auf den Februar selbst - und es ist ein Mann, der eine Geschichte schreibt: die Geschichte der Stadt."
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"Sie zeigten auf Löcher am Himmel und warteten. Manchmal glühten alle Ballons gleichzeitig und bildeten ein Lichterzelt über der Stadt, unter deren Dächern die Traurigkeit des Februars wuchs.“ S.10

Zuerst einmal muss ich wirklich sagen, dass ich die Umsetzung der englischen Ausgabe ins Deutsche nicht ganz nachvollziehen kann. Der gewählte Titel scheint nicht sehr interessant und ausgefallen und auch das Cover, lässt meiner Meinung nach etwas zu wünschen übrig. (Zugegeben, vielleicht war die Gestaltungskultur, was Bücher angeht, vor sechs Jahren noch eine etwas andere…)Wenn man sich das englische Original ansieht, kann man deutlich stärker erahnen, auf was man sich einlässt. Man muss der Gestaltung aber dennoch zu Gute halten, dass sich unter dem „Duskjacket“ das wiederfinden lässt, was die Geschichte ausmacht, nämlich ihre Originalität und die schöne Gestaltung mit zahlreichen Illustrationen. Die Geschichte an sich ist wirklich nichts für Leser, die eine strikte Ordnung brauchen und den gänzlichen Regeln der Normalität folgen möchten. Denn die Geschichte lebt von ihrer Absurdität und ihrer Eigenart. Zu Beginn habe ich die „Kräfte“ die dort in der Stadt herrschen und die Situation gar nicht wirklich einschätzen beziehungsweise verstehen können. Ich glaube der Trick dabei ist, sich eben völlig von allen bisher bekannten Weltanschauungen zu lösen. So dauert hier der Februar zum Beispiel beinahe ein ganzes Jahr an und löst sogar einen Krieg aus. Merkwürdige Dinge geschehen und es finden sich Menschengruppen zusammen, die sich maskieren und durch ganz merkwürdige Handlungen versuchen gegen den Februar anzukommen. Man muss wirklich sagen, dass dies ein sehr außergewöhnliches Leseerlebnis mit sich bringt. Es ist einfach ein Stück Literatur, das man zunächst nicht richtig einordnen kann. Zudem wird auch die Erzählperspektive stets gewechselt, so dass nicht nur Thaddeus zu Wort kommt, der zum Anführer gewählt wird, sondern auch alle anderen Beteiligten Personen. Das führt sicherlich etwas zu Verwirrungen (besonders auch auf den Inhalt des Gesagten), ist aber, wenn man sich wirklich auf diese ungewöhnliche Geschichte einlässt, ein tolles Experiment, wenn ich es so sagen kann. 

"´Machen Sie sich mit allem vertraut - passen Sie nur auf, dass sie nicht in den Teich fallen. Der Schlamm ist ausgesprochen glitschig.´ ´Ich habe keinen Teich gesehen...Ist er hinterm Haus?´ ´Nein. Im dritten Stock. Sie können ihn nicht verfehlen.´“ S. 83

Die Geschichte an sich ist etwas poetisch und etwas abstrus. Zusammen mit den doch recht verständlichen und sehr schön gestalteten Illustrationen, wird das Buch und die Geschichte aber, zumindest für mich, zu etwas Besonderem. Das Merkwürdige ist, dass ich selbst nach Beenden des Buches nicht genau weiß, was ich aus der Geschichte ziehen soll, aber ich weiß, dass sie mir gefallen hat und dass sie etwas ganz Spezielles ist. Die Erzählung ist sehr surreal angelegt und lässt gar nicht richtig durchblicken, was nun der Realität entspricht, welche Handlungsstränge chronologisch richtig sind (besonders am Ende) oder welche Personen eine scheinbare Doppelaufgabe erfüllen. Was mich dabei sehr in den Bann gezogen hat, ist die Tatsache, dass der Februar tatsächlich personifiziert wird, wortwörtlich. Denn er erscheint als menschliche Gestalt und teilt seine Empfindungen. Dadurch wir die Geschichte noch einmal etwas kurioser. Es wird auch ständig mit sehr erschütternden Geschehnissen gespielt, welche aber komplett losgelöst sind, von der eigentlichen physischen Möglichkeit. Menschen werden zum Beispiel wieder zum Leben erweckt oder scheinen selbst gar nicht zu wissen, um welche Erscheinungen es sich handelt, sprich ob ihnen ein Mensch oder ein Geist gegenübersteht, was ja an sich erneut zu merkwürdigen Denkmustern führt. Ich kann also durchaus sagen, dass sich das Buch, wie ein „total abgedrehter“ Film anfühlt. Anders kann ich es leider nicht mit eleganteren Worten ausdrücken. Für mich war es aber eines der wohl prägendsten Leseerlebnisse dieses Jahres.

"´Apropos´ sagte er. ´In meinem Arbeitszimmer steht ein Einweckglas mit der Aufschrift >Kaution<. Wenn Sie bis heute Abend nichts von mir hören, dann bringen Sie das Glas einfach zur Polizeiwache in der Mason Street, ja? Ich bin normalerweise in der ersten oder zweiten Zelle.`´ " S.84


Diese recht kurze und wilde Erzählung zeigt wunderbar auf, wie vielfältig man mit Worten und mit Gebilden aus Worten umgehen kann. Sehr surrealistisch und unfassbar einzigartig. Die Verknüpfung aus kurzen, langen, chronologisch verwirrenden Passagen, lässt das Buch sehr frei interpretierbar wirken, auch wenn man gar nicht weiß, ob man es interpretieren will. Es steht einfach ohne jegliche Bewertung für sich. Ich glaube es ist ein Buch und eine verkörperte Idee, die man entweder liebt oder dem eher abgelehnt gegenübersteht, da vieles nicht mit unserer alltäglichen Erkenntnis vom Weltverständnis kompatibel ist. Meiner Meinung nach ist es aber ein tolles, verwirrendes, vielseitiges Buch, das einen zwingt, es in einem Ruck durchzulesen.


4 Kommentare:

  1. Das klingt wirklich nach einem besonderen Buch! Lustigerweise habe ich das auch schon seit Ewigkeiten im Regal zu stehen - mein Freund hatte es vor Jaaaaahren mal gekauft, aber weder ich noch er haben es bis jetzt gelesen. Vielleicht sollte ich das in naher Zukunft wirklich mal ändern - mir gefallen so abstruse und surreale Geschichten eigentlich immer sehr gut und du hast mich wirklich ganz schön neugierig gemacht.

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    1. Das ist ja witzig! Mir ist das Buch sonst wirklich nirgends (!) unter die Augen gekommen.. :) Falls du es lesen wirst, bin ich wirklich sehr gespannt auf deine Reaktion! : D


      Liebe Grüße,
      Karin

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  2. Ich kann mich noch erinnern wie das Buch zum deutschen Erscheinungstermin auf den Blogs die Runde gemacht hat! Damals hat mich das irgendwie 0 interessiert, aber das was du erzählst, klingt eigentlich total gut und die englischen Cover sprechen mich auch viel mehr an. Das nehme ich noch mal genauer unter die Lupe!

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    1. Ich hab es auch nur mitgenommen, weil meine Schwester mich darauf aufmerksam gemacht hat und war am Ende überrascht, dass ich es so gut fand. : D


      Liebe Grüße,
      Karin

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