(Original: "Stranger Than We Can Imagine. Making Sense of the Twentieth Century / 2015) Insel Verlag: Bibliografie auf der Verlagsseite (Insel Verlag) » , 379 Seiten, gebunden, Einzelband, ★★★★☆ 4 Sterne
"Bei der Uraufführung von Igor Strawinskys Le Sacre du printemps am 29. Mai 1913 in Paris kommt es zum Eklat. Schon während der Eröffnungsmusik bricht ein Teil des Publikums in höhnisches Gelächter aus. Als die Tänzer auf den Boden zu stampfen beginnen, schlägt der Unmut der Zuschauer in Entrüstung um. Zu radikal ist der Bruch mit der Tradition. Ohne dass sie es gemerkt hätten, hatte sich alles geändert, als der Zeiger des Weltalters von 19 auf 20 sprang.
Auf fast allen Gebieten wurden im 20. Jahrhundert Entdeckungen gemacht oder Ideen entwickelt, die unser Bild vom Universum und von uns selbst auf den Kopf gestellt haben. Alles schien neu, nichts unmöglich: Maschinen, die denken, Hunde im Weltall und Menschen auf dem Mond. Alte Gewissheiten büßten ihre Geltung ein, hergebrachte Autoritäten verloren ihre Macht. Die Welt wollte kein Zentrum mehr kennen."
MEINE MEINUNG |
FAZIT
"Stellen sie sich das 20. Jahrhundert als eine vor ihren Augen ausgebreitete Landschaft vor. Stellen sie sich vor, die Ereignisse der zugehörigen Geschichte wären Flüsse, Wälder und Täler. Unser Problem liegt nicht darin, dass diese Zeit und verborgen wäre, sondern dass wir zu viel über sie wissen. Wir alle wissen, dass diese Landschaft die Gebirge von Pearl Harbor, der Titanic und der südafrikanischen Apartheid enthält.[…] Das Gelände ist genauestens […] aufgezeichnet worden. Das kann überwältigend wirken.“ S. 16
Zugegeben, besonders viel habe ich vom 20. Jahrhundert
nicht mehr mitbekommen. Wenn man 1991 geboren wird, dann bleiben einem neun
Jahre, um Teil dieses Jahrzehnts zu sein. Ganz zu schweigen davon, dass man
diese relativ kurze Zeit, als Kleinkind, kaum reflektieren kann. Daher habe ich
dieses Buch mit größter Freude gelesen. Ein ganzes Jahrhundert in ein Buch zu
komprimieren, welches knapp vierhundert Seiten beinhaltet, wobei vierzig mit
Quellenangaben und Nachweisen, wie einem Inhaltsverzeichnis versehen sind, das
ist nicht ganz einfach. Natürlich, es gibt auch Geschichtsbücher, die weitaus
eine größere Zeitspanne vereinen, jedoch sicherlich nicht so unterhaltsam, wie es John Higgs gelingt. Er
spricht den Leser direkt an und bezieht ihn in alle Theorien und Ereignisse mit
ein. Er verknüpft Fakten mit Anekdoten und baut das gesamte Wissen als Gerüst
auf. Jedes Kapitel schließt und beginnt mit einem guten Übergang. Es bleibt
nichts in den Raum reingeworfen und nicht erklärt. Viele Stellen sind mit
neckischen Kommentaren versehen, veranschaulichen aber immer das eigentliche
Geschehen oder die Theorie, die der Autor vermitteln möchte. Dabei weiß er aber
immer genau, wann man wieder ernst werden muss, nämlich an den Stellen, die mit
gewissem Grauen assoziiert werden. Gewisse Witze oder Andeutungen auf bestimmte
Persönlichkeiten sind demnach nie geschmacklos.
"Dalí besaß nicht den Filter, mit dem die meisten ihr Selbstbewusstsein versehen […]. In Freuds Modell fehlte ihm das Über-Ich, welches das Es gehindert hätte aus ihm hervorzuströmen. […]So meine Henry Miller: ´Dalí ist das größte Arschloch des 20. Jahrhunderts´.“ S.118f.
Das Buch
veranschaulicht dem Leser alle möglichen, aber auch alle wichtigen Themen des
Zeitgeschehens des 20. Jahrhunderts. Die Themengebiete erstrecken sich von der
Kunst, dem Film, der Musik, hinüber zu den Kriegen, den gesellschaftlichen
Kämpfen und Erfolgen, wie auch hinüber zu der Mathematik und Physik und der
Psychologie. Es ist nicht zu
spezifisch, jedoch spezifisch genug, um die Zusammenhänge zu verstehen und alle
Jahrzehnte in einem eigenen Licht sehen zu können. Die mathematischen oder
physischen Ansätze sind dem Leser eigentlich bekannt, denn es handelt sich dort
um Themen wie die Relativitätstheorie von Einstein. Jedoch gibt es auch Themen,
die Zusammenhänge herstellen, wie „Die Unbestimmtheit“, die mir so nicht
bekannt gewesen sind. Als vollkommen mathematisch unbegabter Mensch, konnte ich
dennoch jedem Schritt folgen und habe verstanden, worauf Higgs abzielt. Es ist
erstaunlich, wie viel Spaß ich daran hatte, dieses Buch Stück für Stück und gleichzeitig auch das 20.
Jahrhundert zu erforschen. Die Kapitel sind an sich nicht sehr lang, jedoch
mochte ich es, nicht mehr als zwei oder drei auf einmal zu lesen, um zu wissen,
dass ich mir die anderen Kapitel noch aufheben konnte. Mir gefielen vor allem
die, vom Autor, herangezogenen Beispiele aus der heutigen Zeit, um komplexere
Themengebiete zu veranschaulichen. So muss auch die TARDIS aus „Doctor Who“ für
Erklärungsversuche herhalten. Zudem schafft es Higgs mit unvergesslichen
Vergleichen, den Leser die Erklärungen nicht vergessen zu lassen. Er vergleicht
den Zerfall eines Atomkerns mit der möglichen Schlagzeile, dass Putin ein
Känguru schlagen würde oder erklärt die Namensgebung der Beatles Mithilfe des
vorangegangenen Nihilismus. Was mich aber zusätzlich von dem Werk überzeugt,
ist, dass auch die Literatur nicht zu kurz kommt. Sie wird ebenso als wichtiger
Gegenstand des 20. Jahrhunderts angesehen. Higgs führt wahnsinnig viele Werke
vor, die man am liebsten sofort alle lesen würde. Ja, ich kann durchaus
sagen, dass das eine wilde Fahrt durch das 20. Jahrhundert gewesen ist und sie
hat mir sehr gefallen, auch wenn nicht alles perfekt verlaufen ist. Die wenigen
Jahre, die ich jedoch noch vom 20. Jahrhundert miterlebt habe, habe ich in
diesem Werk definitiv wiedererkannt.
"Unter diesen Umständen wird das 20. Jahrhundert
eine seltene Erscheinung gewesen sein. Eine Zeit, die einen Blick auf das
Schlimmste und auf das Beste im Menschen bot." S. 342
Tolles Werk
über die „Ups and Downs“ des 20. Jahrhunderts. Jedes Jahrzehnt, jedes wichtige
Ereignis und jegliche Auswirkung habenden Entwicklungen wurden mit ein bezogen.
Gute Strukturierung und gelungene Verwendung von Anekdoten. Es ist unterhaltsam
und informativ zugleich. Hinterlässt sogar einen Hauch erzieherischer
Maßnahmen, in dem er den Menschen die Augen öffnen möchte, für die Zukunft, die
uns bevorsteht. John Higgs dürfte mir gerne noch andere Jahrhunderte
niederschreiben. Ich würde sie alle sofort lesen!
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