(Original: "Small Mercies"/ 2015) Übersetzer/in: Hans-Ullrich Möhring und Karen Nölle, 415 Seiten, gebunden, Einzelband, ★★★★☆ 4 Sterne
"Der Tag, an dem sich alles veränderte – die mitreißende Geschichte einer New Yorker Familie nach 9 /11 Fast zehn Jahre ist es her, dass Bobby Amendola als Feuerwehrmann beim Einsturz der Twin Towers sein Leben lassen musste, und noch immer sind die Wunden in seiner irisch-italienischen Familie nicht verheilt. Weder bei dem Vater, der selbst Feuerwehrmann war, noch bei der Mutter, die weiterhin jeden Morgen in das unveränderte Zimmer des toten Sohnes geht. Auch beim großen Bruder, einem erfolgreichen Firmenanwalt, bricht der wohlgeordnet-sorgenfreie Alltag gerade auseinander, während das Leben seines Bruders Franky noch nie anders als zerbrochen war. Und dann will Bobbys Witwe ausgerechnet am neunten Geburtstag von Bobby Junior einen neuen Mann mitbringen in das Familienhaus auf Staten Island ..."
MEINE
MEINUNG | FAZIT
"´Du machst eine Schildkröte ohne Panzer aus ihm. Wenn die Welt dann hart zutritt, weiß er nicht, was er tun soll.´ Und die Welt hatte hart zugetreten.“ S.28
Es ist mir in letzter Zeit nie so schwer gefallen, ein Buch zu bewerten, wie dieses. Manche Bücher lässt man eigentlich lieber gern für sich stehen, ohne Bewertung. "Bobby" ist Eddie Joyces Debütroman und ist gleichzeitig mit so vielen Aspekten aus dem Leben und aus der Vergangenheit versehen, dass man am Ende erst einmal überlegt, worum es in dem Buch ganz genau ging. Denn obwohl es die Geschichte einer Familie erzählen soll, die durch den Verlust eines Familienmitglieds, ein aus den Fugen geratenes Leben führt, erzählt es meiner Meinung nach viel mehr. Vorneweg muss ich dazu aber sagen, dass mir, so sehr mich vor allem am Ende viele Passagen sehr bewegt haben, der Erzählstil über weite Strecken nicht ganz zugesagt hat. Ich mag es einfach nicht, wenn eine Geschichte, seien die Figuren auch noch so "runtergekommen", von einer ständigen obszönen Sprache lebt. Sicherlich charakterisiert dies die jeweilige Person, allerdings ist mir auch bei eher "neutralen" Stellen aufgefallen, dass mir der Ton oft einfach zu derb war (Es kann aber auch einfach schlicht daran liegen, dass ich kein Freund von unnötig oft vorkommenden Kraftausdrücken etc. bin). Wie aber bereits angedeutet, ist mir aber eben auch besonders zum Schluss, positiv aufgefallen, dass dieser Teil besonders gefühlvoll und passend geschrieben wurde. So wie den Figuren selbst, bleibt einem auch ab und an ein "Kloß im Hals" stecken. Bereits nach den ersten Kapiteln bleibt man mit den Figuren auf einer Ebene, die man schwer beschreiben kann. Ich kannte noch nicht die ganzen Eigenschaften, die Bräuche, die Kindheitserinnerungen der jeweiligen Figuren, die nach und nach erzählt werden, aber ich fühlte mich dennoch mit ihnen vertraut. Jedes Kapitel wird von einem anderen Familienteil erzählt. Jeder bringt andere Erinnerungen an Bobby, wie auch an die eigenen, mit. Man hat das Gefühl, man schlägt ein riesiges Familienalbum auf, und bekommt für jedes Foto eine Geschichte präsentiert. Mir gingen vor allem die Kapitel der Eltern sehr nahe, denn diese waren von der Gefühlswelt her, sehr komplex und doch legten sie alles offen.
"´Erzähl mir eine Geschichte über Bobby, die ich nicht kenne.´ ´Eine Bobby-Geschichte? ´Eine Bobby Geschichte.´ Es wurde ihr kleines Ritual. Wenn eine von ihnen einen Durchhänger hatte, bat sie die andere um eine Bobby-Geschichte.“ S. 106
Ich fand es erstaunlich zu sehen, wie sehr man ein gewisses Bild eines Menschen vor Augen hat, obwohl dieser nicht wirklich auftaucht. Er ist ein Schatten, nimmt aber nach und nach eine deutliche Gestalt an. Bobbys Geschichten werden durch die anderen erzählt, aber man weiß am Ende dennoch mehr über ihn, als über manch anderen. Bis auf das letzte Kapitel, welches einen sehr kleinen Einblick aus Bobbys Leben aufzeigt (der ihn aber genauso charakterisiert, wie die Familie dies getan hat), sind alle Kapitel darauf ausgelegt, diesen Verlust an der Familie und deren Weiterleben aufzuzeigen. Was mir daran besonders gut gefallen hat, ist die Tatsache, dass der Autor ein Ereignis in den Fokus setzt, welches jeden aus der Bahn zu werfen scheint. Obwohl neun Jahre vergangen sind, wühlt dieses eine Ereignis erneut alles auf und führt den Leser so gezielt durch die Familiengeschichte. Dabei verbindet sich das Ende des Romans sehr gut mit den Anfängen. Man kann sagen, dass der Roman kein Buch ist, welches die wunderbaren Seiten eines Lebens aufzeigt, in denen jeder das tollste und beste aus seinem Leben gemacht hat. Nein, das Buch erzählt Geschichten, die einen Schmerz aufzeigen, von dem sich einige mehr und andere weniger erholen. Immer mal wieder, tauchen Szenen auf, die sicherlich schöne Momente aufzeigen. Momente, die niemand der Figuren vergessen möchte und die auch einen zentralen Punkt darstellen. Das Thema Hoffnung leitet einen also gewiss auch durch das Buch. Es zeigt aber auch die außerordentliche Verletzlichkeit der Menschen auf und thematisiert mit einer gefühlvollen Wucht, wie sehr dieser Anschlag auf das World Trade Center viele Familien und Menschen getroffen hat.
"Wenn du ein Kind verlierst, ist die klar, dass der Schmerz übermächtig und niederschmetternd sein wird, aber du rechnest eher damit, dass er eintönig sein wird: ein einzelner, entsetzlicher Ton, den du nicht mehr aus dem Kopf bekommst. Aber das stimmt nicht. Er hat Maße, er hat Tiefe." S.108
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Unabhängig davon, dass der Anschlag von 9/11 im Vordergrund steht und verdeutlicht, was für schmerzliche Verluste erlitten wurden, thematisiert das Buch die Chronik einer sehr außergewöhnlichen Familie. Obwohl es stets ein zentraler Aspekt bleibt, nimmt man die Geschichten der Familie nach und nach immer stärker unabhängig von dem Ereignis wahr. Es geht um Reue, Zusammenhalt, Traditionen, Schuldbewusstsein, Vergebung, wie auch Liebe. Ein sehr intensives und emotionales Buch, welches einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Für meine Verhältnisse, hätte es ein wenig auf die derbe Sprache verzichten können.
Vielen Dank an den DVA Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars!
Ich war schon sehr neugierig auf deine rezension, da ich dieses Buch auch auf meiner Wunschliste habe. Nun bin ich allerdings fast so gescheit, wie vorher ;) Diese derbe Sprache mag ich nämlich auch nicht sehr ...hm, mal abwarten, was nun andere Leser dazu sagen...
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Martina
Normalerweise wäre das für mich wohl auch ein Kriterium, bei dem ich sagen würde, dass ich das Buch deswegen nicht mehr lesen wollen würde, bzw. weiterlesen wollen würde. Aber erstaunlicherweise hat die Entwicklung der Figuren und die Verbindung des Lesers zu diesen dazu geführt, dass ich trotzdem wissen wollte, was alles passiert ist. : )
LöschenAber ich denke es kann nie verkehrt sein, noch andere Meinnungen zu lesen.
Liebe Grüße,
Karin