The Missing of Clairdelune (The Mirror Visitor #2) von Christelle Dabos

Juni 23, 2020

(Original: "La Passe-Miroir. Livre 2. Les Disparus du Clairdelune"/ 2015) Europa Editions (2019), dt. Ausgabe "Die Verschwundenen des Mondpalasts", Übersetzer/in: Hildegard Searle (aus dem Französischen), ★★★★☆ 4 Sterne
Dies ist der zweite Teil einer Reihe  // Rezension zu Teil eins "A Winter´s Promise" 
Als Ophelia dazu aufgefordert wird, für Farouk, den Geist der Vorfahren des Pols, als Geschichtenerzählerin zu dienen, findet sie sich selbst in einer Situation wieder, in welcher sie im Rampenlicht steht. Ihre Gabe - eine Fähigkeit, die Geschichte von Gegenständen lesen zu können, ist nun ebenfalls allen bekannt. Doch dies führt dazu, dass auch mögliche Feinde auf sie aufmerksam werden.
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"Cunegond winked at her, briefly revealing the tattoo on her eyelid. 'Objects hold no secrets for you. In other words, you´re likely to reveal all the court´s secrets, and believe me,' she whispered very quietly, 'they are innumerable'."  S.43

Teil zwei der "The Mirror Visitor"-Reihe war anders, als ich es mir anfangs vorgestellt hatte. Einige Sachen wurden sehr lange zurückgestellt, von denen ich erwartet hatte, dass sie ein prägendes Element der Geschichte bleiben. Andere Dinge hingegen wurden so geschickt eingebaut, dass ich positiv überrascht war. 

Was mich anfangs verwundert hat, war, dass Ophelias Möglichkeit, durch Spiegel zu reisen, kaum genutzt oder erwähnt wurde, dabei heißt die Reihe ja "Die Spiegelreisende". Das war ein Punkt, den ich tatsächlich etwas schade fand. Zwar nimmt es nach und nach wieder Fahrt auf, aber ich hätte mir da doch eine stärkere Ausarbeitung gewünscht. Mir erschien auch leider generell die erste Hälfte relativ zäh und zu ausgedehnt. In der zweiten Hälfte kriegt man alles um die Ohren geworfen, sodass man einfach das Gefühl hat, dass das Verhältnis zwischen Spannung und Auflösung nicht ganz ausgeglichen ist. Dennoch konnten die guten Entwicklungen zum Schluss mein Interesse auf den nächsten Teil definitiv erneut entfachen!

"Ophelia felt as if she was in posession of nearly all the pieces of the jigsaw puzzle. If onnly her head could have stopped spinning for one moment, she might have been able to fit them together..."  S. 400

Die Beschreibungen der Welt(en) wird weiterhin fortgeführt, wie wir es aus Band eins eigentlich kennen, jedoch wird hier auch erneut und ausführlicher auf die Machtstrukturen, die Vergangenheit und die nun noch näher bekannten Familienkonstellationen verwiesen.
Mir gefiel, dass die Leser*innen deutlich stärker gefragt sind, was das Aufspüren von Hinweisen betrifft. Zudem kommt man auch endlich dem Geheimnis dieser Gedankenschnipsel zwischen den Kapiteln deutlich näher. Daher würde ich wohl sagen, dass ich trotz einiger Abzüge, den zweiten Teil stärker einschätze, als den ersten. Vielleicht nicht zwingend verwunderlich, da es keiner kompletten Einführung mehr bedarf und man den Handlungsstrang fokussierter ansetzen kann.

Zu den angesprochenen Gedankenschnipseln: Ich denke, diese haben das Buch weitestgehend getragen. Zusammen mit dem Ende des zweiten Teils ergibt es einfach eine wahnsinnig spannende Geschichte, die zwar erneut sehr viele Fragen aufwirft, die aber dafür sorgt, dass man ein tieferes Verständnis für die "Ur-Geister" der Arks bekommt. Soviel sei verraten, es geht insgesamt auch in die mythologische Richtung, was ich persönlich immer besonders liebe. Für alle, die also ebenfalls daran Interesse haben und mit sich hadern, ob sie die Reihe fortsetzen sollen: ich würde den zweiten Teil sicherlich noch empfehlen.

Die Figuren selbst und deren Entwicklung sehe ich etwas zwiegespalten. Auf der einen Seite, habe ich schon erwähnt, bekommt man natürlich mehr Informationen zu ihnen und versteht immer besser, wie sie denken und warum sie so handeln, wie sie eben handeln. Auf der anderen Seite, hatte ich manchmal das Gefühl, dass bei all den Beschreibungen immer noch vieles auf der Strecke bleibt. Das kann natürlich noch daran liegen, dass zwei weitere Bände vorliegen und man noch eine Steigerung erwartet (erwarten soll), aber an der einen oder anderen Stelle hatte ich gehofft, endlich viel mehr Interaktion und deutlich aufschlussreichere Gespräche zwischen Ophelia und Thorn präsentiert zu bekommen. Da ich aber nun sicherlich noch zu dem nächsten Teil greifen werde, lege ich das vorerst nicht als gänzlich negative Kritik aus, da man schon spürt, dass Thorn sozusagen ein Ass im Ärmel haben könnte.


Gelungener zweiter Teil der Reihe, auch wenn mich die zweite Hälfte deutlich stärker packen konnte, als die erste. Anfangs wirkt alles noch recht lose und sehr ausufernd, zum Ende hin wird es spannend und das betrifft die Handlung selbst, wie auch die Gedanken, die sich um die Welt, die Geister und die 'Arks' drehen. Einige Aspekte sind mir vielleicht zu kurz gekommen zum Beispiel das Reisen zwischen den Spiegeln, aufschlussreiche Gespräche zwischen den Verlobten oder die Interaktion beider Familien, aber mich hat das Interesse am dritten Teil definitiv gepackt!

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Das sternenlose Meer von Erin Morgenstern

Juni 16, 2020

Buch - Das sternenlose Meer von Erin Morgenstern
Werbung ~ Rezensionsexemplar (Original: "The Starless Sea"/ 1854), Blessing Verlag (2020), Übersetzer/in: Karin Will (aus dem Amerikanischen), ★★★★(★) 4,5 Sterne
"Eigentlich arbeitet Zachary Ezra Rawlins an seiner Promotion, doch er kommt nicht weiter. Denn immer, wenn er in der Bibliothek ist, sucht er ein Buch auf, das zwischen den Regalen versteckt liegt. Ein Buch, in dem Zachary eines Tages eine Schilderung seiner eigenen Kindheit findet. Aber wie ist das möglich? Auf der Suche nach dem Geheimnis dieses Buches entdeckt Zachary eine unterirdische Welt voller Bücher am Ufer eines sternenlosen Meers, wo er schließlich eine Verschwörung aufdecken und für die Liebe seines Lebens kämpfen muss."
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"Diese Türen singen. Stumme Sirenengesänge für diejenigen, die nach dem suchen, was dahinter liegt.
Für diejenigen, die Heimweh nach einem Ort haben, an dem sie nie gewesen sind.
Für diejenigen, die suchen, ohne zu wissen, was (oder wo)sie suchen
Die Suchenden werden finden.
Ihre Türen haben auf sie gewartet.
Aber danach geht es unterschiedlich weiter.
" S.84

"Wenn sich eine Tür schließt, dann öffnet sich eine andere"? Oh, wie gut dieser Spruch zu diesem Buch passt.
Worum geht es in der Geschichte? Also, ehrlich gesagt, kann ich nicht behaupten, dass ich das beantworten kann. Vielleicht geht es einfach, um Anfänge und Enden, um (eine) Liebesgeschichte(n), um die Magie der Worte, Bücher. um Märchen, um das Schicksal und um eine Geheimorganisation. Vielleicht geht es aber auch noch um ganz andere Dinge (ich glaube, die Sache mit der Eulenversammlung habe ich immer noch nicht zu hundertprozentig verstanden).

Diese Geschichte versucht alles zu sein und gleichzeitig nichts. Das ist es auch, was ich letztlich so sehr daran mochte. Für mich hat es das Buch geschafft, in seiner Handlung und Deutung offen, aber dennoch stets interessant zu sein, auch wenn man sich teilweise in wahnsinnig vielen Handlungssträngen verirrt. Ich bin irgendwann an den Punkt angelangt, dass ich nichts mehr erwartet habe. Ich habe mich nicht danach angestrengt, zwanghaft einen Sinn oder eine Botschaft darin zu entdecken, sondern habe einfach gelesen. Und das hat dann auch irgendwie gepasst, denn das Treiben des oder der Leser*in in diesem Meer an Informationen und Figuren, kann nur funktionieren, wenn man sozusagen einfach loslässt. 
Ich mochte, dass man in jedem Kapitel zwar irgendwie zurückgeschubst wurde, aber gleichzeitig auch vorankam, ohne zu wissen, in welche Richtung es geht. Dabei gefielen mir natürlich die ganzen literarischen Anspielungen, ganz zu schweigen das Literaturfest zu Beginn, an dem ich selbst gerne teilgenommen hätte und auch die kleinen Hinweise auf Bücher, die nur durch Details in Bezug auf das Cover beschrieben werden, die man aber irgendwie dennoch kennt.

" 'Das ist doch absurd.'
'Die Absurdität der Angelegenheit ändert nichts an der Wahrheit'" 
S.332

Ebenso habe ich es genossen, in die Geschichten und Fabeln aus den Büchern gezogen zu werden, die der Protagonist Ezra entdeckt. Auch hier setzen sich nur einige Puzzleteile am Ende zusammen, das hat mich in diesem Fall aber gar nicht gestört. Das Verweilen in dieser Welt hat den ansonsten negativen Kritikpunkt beiseitegeschoben. 
Es gibt durchaus Dinge, die angesprochen werden zum Beispiel die Symbolik von den Schwertern, Monden, Bienen oder Herzen, bei denen ich mich doch gefragt habe, ob mir die kleinen Erklärungen dazu gereicht haben. Einerseits ist es auch hier geschickt gemacht, dass man als Leser*in eigene Deutungen hineingelegen kann, die auch durchaus Sinn machen würden, andererseits habe ich mir gedacht, dass die Autorin es sich dahingehend vielleicht doch zu einfach gemacht hat, indem sie eben so viel aus der Hand gibt. Das wurde von mir aber direkt selbst widerlegt, als ich daran dachte, dass die Geschichte ja eben dies erreichen will. Jede*r soll erkennen, dass sich eine Geschichte in unzählige Varianten entwickeln kann, wenn sie von jemand anderem betreten wird. Hach, eigentlich doch ziemlich clever also.

Daher mochte ich tatsächlich auch die vielen Verschachtelungen von verschiedenen Geschichten und Ebenen, genauso wie die vielfache Auslegung der Figuren. Nach und nach erkennt man, welche Funktionen damit abgedeckt werden und wie sich die Dynamik der Gruppe verändert. Wer hält zu wem? Wem kann man trauen? Gibt es überhaupt eine Seite, die man wählen kann oder vermischt sich auch hier alles zu einem Spiel, in dem die Perspektive das Entscheidende ist? Ich kann zum Beispiel gar nicht wirklich sagen, dass ich eine Figur nicht mochte. Auch wenn man nicht alle Absichten auf Anhieb deuten kann, lagen mir alle Schicksale irgendwie am Herzen, sogar die der Katzen. 
Ich glaube das schwierige hieran ist wirklich, dass man nur Freude an der Geschichte hat, wenn man einfach grundsätzlich gerne in der Nähe der Figuren ist und die Beschreibungen und den Erzählstil mag, da man am Ende kein "so ist es und nicht anders. Keine Alternative. Klare Auflösung. Punkt." bekommt. Man muss die Lust haben, sich mitreißen zu lassen, von einem Buch, welches das Potential von verschiedenen Möglichkeiten aufzeigen will, in jeglicher Hinsicht.

"Tief unter der Erdoberfläche, fernab von Sonne und Mond, am Ufer des sternenlosen Meers, liegt eine labyrinthartige Ansammlung von Tunneln und Räumen, die voller Geschichten sind." S.11


Eine sehr dicht erzählte, verworrene, manchmal auch verwirrende, aber magische und charmante Geschichte. Auch wenn das Buch durchaus ein Konzept verfolgt (verfolgen muss), besteht das Konzept meist darin, zu zeigen, dass kein Konzept nötig sein sollte. Was? Ja, irgendwie genau das. Das Buch spielt mit dem Verständnis von Zeit und Schicksal, springt durch Welten, die wir kennen und dann auch wieder nicht und lässt uns Einblicke in die Liebesgeschichten vieler Paare erhalten. Manchmal spannend, dann wieder melancholisch ist die Geschichte wohl alles und auch nichts, besteht aus vielen Bauteilen, die man als Leser*in so für sich zusammensetzt, dass es irgendwie Sinn ergibt. Dabei liegt das Geheimnis glaube ich darin, sich einfach mit der Geschichte treiben zu lassen und mitzuträumen.
Wer eine klare Handlung braucht und sich schwer damit tut, wenn es kein klares Ende gibt, der sei ein klein wenig vorgewarnt - hier gibt es mehr als eine Handlung und mehr als einige offene Fragen (solange man den "Fehler" begeht, sich überhaupt in den Strudel von Fragen zu stürzen).


Vorsatzpapier von Erin Morgensterns Das sternenlose Meer
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Penguin Vitae Series

Juni 05, 2020

Es gibt eine neue Penguin Classics Reihe. Dieses Mal findet man dort allerdings nicht die üblichen Verdächtigen wie "Jane Eyre" oder "Pride & Prejudice", sondern Stimmen, die bisher viel zu wenig Beachtung geschenkt bekommen haben.

Die Reihe nennt sich Penguin Vitae Series und besteht derzeit aus 5 Hardcover Titeln, Weitere 5 folgen im Herbst / Winter.
Zwar kennt man durchaus schon die beiden Klassiker "The Yellow Wall-Paper" von Charlotte Perkins Gilman und "The Awakening" von Kate Chopin, die restlichen drei sind dafür aber endlich mal verdient in einer solchen Reihe vertreten.
Wie der Name vielleicht schon vermuten lässt, geht es in den Büchern primär darum, einen Lebenslauf in den Fokus zu stellen. Dabei decken die Bücher beides ab, Fiction und Non-Fiction. Allen Texten geht ein Vorwort bekannter AutorInnen voran.

Welche Titel genau in der Box (die Titel kann man auch einzeln kaufen) zu finden sind und worum es darin geht, erfahrt ihr im Folgenden:

  • "The Awakening and Selected Stories" von Kate Chopin: Es geht um die bahnbrechende Beschreibung einer Frau, die sich gegen die Erwartungen der Gesellschaft stellt, um ihre eigenen Wünsche und Sehnsüchte zu erreichen. Mit einem Vorwort von Claire Waye Watkins, Autorin des Romans "Gold Ruhm Zitrus". Ergänzt wird die bekannteste Erzählung durch weitere kurze Geschichten von Chopin
  • "Passing" von Nella Parsen: Ein Grund, weshalb ich mir die Box geholt habe, ist tatsächlich dieses Buch. Es soll eine kraftvolle, mitreißende und ergreifende Geschichte über die eigene Identität sein. Der Fokus liegt hier aber gezielt darauf, dass sich die Figuren mit dem Rassismus, der ihnen entgegengebracht wird, auseinandersetzen müssen. Dabei wird es zu einem Spiel, beinahe einer Maskerade der ProtagonistInnen, sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen. 
  • "Before Night Falls" von Reinaldo Arenas: Dieses Buch gilt als gefeiertes Memoire eines homosexuellen kubanischen Schriftstellers, der uns sein turbulentes Leben darlegt und gleichzeitig stark politische Meinungen zum kommunistischen Regime äußert. Tatsächlich habe ich hierzu schon vorher einige Meinungen gelesen, die dem Geschriebenen etwas skeptisch gegenüberstanden, da es eventuell etwas überspitzt oder unrealistisch klang (?). Aber ich werde versuchen unbefangen an die Memoiren heranzugehen, erwarte aber, dass die Schilderungen nicht ganz ohne sein werden.
  • "Sister Outsider" von Audre Lorde ist ebenfalls ein Grund für den Kauf der Box. Das Buch versammelt fünfzehn Essays und Reden der Autorin zu den Themen Sexismus, Rassismus, Homophobie, Altersdiskriminierung und den Unterschieden der Gesellschaftsschichten. 
  • "The Yellow Wall-Paper and Selected Writing" von Charlotte Perkins Gilman: Ebenfalls eine Sammlung der "Best ofs". Wundervoll boshaft und mit einer klugen, humorvollen Art sollen diese Erzählungen die Frustration vieler Bürger zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA veranschaulichen. Der wohl bekannteste Text "The Yellow Wall-Paper" von Gilman beschäftigt sich mit dem mentalen Zusammenbruch einer Frau, welche beinahe schon für Gänsehaut sorgt.
Ich bin zurzeit zwar durchaus in Leselaune, aber angesichts der wieder einmal (!) schrecklichen Ereignisse in den USA, kommt es mir irgendwie falsch vor, einfach freudig über ganz andere Themen zu reden. Daher werde ich mich nun erst einmal mit "Passing" und "Sister Outsider" beschäftigen und selbst einiges dazulernen, was diese Themen betrifft. Es ist zwar überhaupt nicht genug, den Rassismus wegzulesen, aber ich wünschte, viel mehr würden sich mit dem Thema auseinandersetzen und zumindest versuchen die Situation zu verstehen und nicht Halbwahrheiten verbreiten, die die Weißen in Schutz nehmen sollen. Ich kann es auch nicht mehr mit ansehen, dass immer wieder solche Verbrechen begangen werden, man kurz bestürzt ist und dann alles vergessen wird und man weitermacht.


Daher auch an euch die Frage: Welche Bücher würdet ihr noch empfehlen, die das Thema Rassismus aufgreifen? (z.B. "Why I´m no longer talking to white people about race", "The Hate u Give" oder "How to be an Antiracist")

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Walden von Henry D. Thoreau

Juni 01, 2020

Werbung ~ Rezensionsexemplar (Original: "Walden, or Life in the Woods"/ 1854), Manesse Verlag - Manesse Bibliothek #19 (2020), Übersetzer/in: Fritz Güttinger (aus dem amerikanischen Englisch), Kommentiert und mit einem Nachwort von Susanne Ostwald, ★★(★)☆☆ 2,5 Sterne
"Pflichtlektüre für alle Fortschrittsskeptiker, Sinnsucher, Weltflüchtige sowie Wald- und Naturliebhaber.
Ein Klassiker von enormer Brisanz: ein leidenschaftliches Plädoyer für Verantwortung, Selbstbestimmung und ein naturnahes, ressourcenschonendes Leben. Nirgendwo finden sich die besseren Argumente für Achtsamkeit und Nachhaltigkeit, Minimalismus und Vegetarismus."
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"Es ist nie zu spät, sich von Vorurteilen zu lösen." S.14

Ich musste mich bei diesem Buch zwar nicht von Vorurteilen lösen, aber besser gesagt von einer Vorüberzeugung und Sicherheit, dass ich es mögen würde. Was ich mehr als schade finde, da der Klassiker seit Jahrzehnten als "Must Read" beworben wird.
Das, was mir bereits in dem einleitenden Kapitel zu seinem "Aufbruch in die Wildnis" am prägnantesten vorkam, war der Schreibstil. Er erinnerte mich an Jean-Jaques Rousseau und seine "Bekenntnisse" - sehr konzipiert und auf seine eigene "reine Weste" ausgelegt. Daher finden wir kaum schlechte Dinge von oder über ihn, da sie getilgt oder nicht benannt wurden. Was eigentlich nicht überraschend sein sollte, wenn jemand einen Text schreibt, der das Leben des damals modernen Menschen kritisieren und zum Umdenken anregen soll. Für mich jedoch glich es ein wenig einem Theaterstück.

Sollte Thoreau dies, aufgrund einer schlauen, rhetorischen, ironischen, aber mir nicht zugänglichen Idee umgesetzt haben, tut es mir leid, wenn ich hier so kritisch schreibe. Aber mich hat der Text einfach eher verärgert und danach nur gelangweilt.

Es scheint zum Beispiel so, als mache er fast alle Menschen, außer sich selbst natürlich, schlecht. Und dies, obwohl er teilweise auch auf sie und ihre Hilfe angewiesen ist. Er verschmäht die Lust der Menschen, sich auch mal trivialer Literatur zuwenden zu wollen, kritisiert aber gleichzeitig, dass reines Studieren nichts bringe und man sich lieber handwerklicher Arbeit zuwenden solle. Es heißt bei ihm zum Beispiel: "Vom Lesen als einer hohen geistigen Tätigkeit wissen sie wenig oder nichts; dabei kann nur eine solche wirklich Lesen genannt werden, nicht das Lesen zum Zeitvertreib, das uns einlullt, und die höheren Fähigkeiten brachliegen lässt. Nur das, wonach wir uns strecken und recken müssen, kann wirklich Lektüre heißen" (S.173f.)
Nun, einerseits möchte er zur Einfachheit zurück, verseht seinen Text aber mit solch einem akademischen Touch, dass er sich eben von diesen "einfachen Leuten" wieder abhebt und eher zur Elite gehört. Das war für mich einfach durchgehend störend, weil es zu paradox war, um es nicht irgendwann zu kritisieren.
Ebenso ist er so gebildet und allwissend, dass selbst erfahrene Bauern ihm keinen guten Ratschlag zum Bohnenanbau geben können: "Mein Bohnenfeld war weit und breit das einzige offene und bebaute Stück Land, und das bot reichlich Anlass für Kommentare." (S.256) Auch wenn er sich damals schon sehr für das Wald- und Naturleben interessiert und sich dahingehend weitergebildet hat, fand ich es recht überheblich, sich als Superbauer darzustellen und gleichzeitig das Wissen der "normalen" Bauern zu mindern.

"Großartig kann man die Landschaft um den Walden-See nicht nennen; sie ist auf ihre bescheidene Art zwar sehr schön, wird aber den, der sich nur kurz hier aufhält und nicht an seinem Ufer gelebt hat, nicht sonderlich berühren; und doch ist dieser See seiner Tiefe und Klarheit wegen so bemerkenswert, dass er eine ausführliche Beschreibung verdient."  S.286

Die Naturbeschreibungen fand ich durchaus oft gelungen und beruhigend, wie ich es mir zu Beginn erhofft hatte. Auch wenn der Anfang nichts damit zu tun hat, dass man von der Welt flüchten kann, sondern dass man eher noch stärker reingezogen wird, gibt es ab der Mitte durchaus schöne Beobachtungen der Gegend und der Tiere, die man gerne liest. Allein, dass er sich gefühlt drei Seiten lang mit den Ameisen und ihren Kämpfen beschäftigt, war ganz interessant.
Da ich, wie erwähnt, von dem "Weltflüchtigen" angetan war, war ich jedoch etwas enttäuscht. dass er stets zu dem Alltag der Menschen zurückgekehrt ist, um auch hier, seine Wohltaten hervorzuheben und andere Verhaltensweisen zu kritisieren.

Dabei lässt sich natürlich nicht bestreiten, dass die Kritik an dem verschwenderischen, "faulen" und egoistischen Lebensstil der Menschen nicht sinnvoll ist und gute Anhaltspunkte zur Diskussion geschaffen werden, aber mich störte die Art wie dies geschieht. Im Endeffekt kritisiert er nämlich durchaus auch durchgehend sich selbst. Ob gewollt oder nicht, das wusste ich eben bis zum Ende nicht so genau.
Er macht es sich nämlich bei einigen Beobachtungen, Vorschlägen und Ratschlägen sehr einfach, indem er sagt "so und so muss es sein", dabei aber viele Faktoren außer Acht lässt.
Die vielen Wiederholungen des Gesagten, die er nur umformuliert und den Text dadurch unnötig in die Länge zieht, stehen ebenfalls oft als Paradoxon zur eigenen Aussage. So sagt er in Bezug auf Nachrichten "Hat man einmal den Grundgedanken erfasst, was braucht man Tausende und Abertausende von Beispielen?" (S.156) Gleichzeitig führt er selbst oft ähnliche Beispiele für den gleichen Gedanken an. Zum Beispiel, wenn es darum geht, dass Menschen gerne Statuen errichten, er aber lieber hätte, dass sie sich um ihre Charakterzüge kümmern. (Vgl. S.150 und 96).

Ich Verstehe den Reiz, das Buch als Klassiker anzusehen, aber ich finde doch zu viel negative Kritik, als dass ich dem Geschriebenen bedingungslos verfallen wäre. Vielleicht ist dies aber auch das Gute daran, dass man den Text kritisch lesen kann und dennoch etwas Wertvolles daraus zieht.
Das Nachwort gibt durchaus weitere Aufschlüsse über die Entstehung und Hintergründe. Mich konnte es aber nicht davon abhalten, die Art von Thoreau an vielen Stellen beinahe unsympathisch zu finden.

"Ich bin überzeugt, wenn alle so einfach leben würden, wie ich es damals tat, gäbe es weder Diebstahl noch Raub. Dergleichen kommt nur vor, wenn die einen mehr als genug haben, während andere darben." S.280


Ein Klassiker, der mich leider eher enttäuscht zurückgelassen hat. Die Natur- und Tierbeschreibungen fand ich oftmals durchaus geglückt und angenehm zu lesen, aber die Einstellung Thoreaus und die überhebliche Stimmung, die seine Erzählstimme auf mich ausstrahlte, haben mich immer wieder zurückgeworfen und auf Distanz gehalten. Natürlich, die Kritik an gewissen gesellschaftlichen Normen ist durchaus berechtigt und auch in vielerlei Hinsicht wünschenswert, aber auch hier fand ich leider die Umsetzung zu fordernd. Thoreau versucht sich hier selbst an der Kritik der anderen auf eine höhere Stufe zu stellen, was das Lesen irgendwann anstrengend gemacht hat.
Auch wenn ich vom Inhalt nicht überzeugt bin, finde ich die Entscheidung des Manesse Verlags, den Klassiker mit einer neuen Übersetzung und Überarbeitung (inklusive Nachwort und Anmerkungen) näher ans Original zu führen, dennoch sinnvoll. Aufgrund meiner persönlichen Einstellung zum Erzähler, war es schlichtweg kein Buch für mich.

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