The Girls von Emma Cline

Oktober 25, 2016




(Original: "The Girls" / 2016) Hanser,  Übersetzer/in: Nikolaus Stingl, 350 Seiten, gebunden,  Einzelband, ★★★★(☆) 4 bis 5 Sterne
"Kalifornien, 1969. Evie Boyd ist vierzehn und möchte unbedingt gesehen werden – aber weder die frisch geschiedenen Eltern noch ihre einzige Freundin beachten sie. Doch dann, an einem der endlosen Sommertage, begegnet sie ihnen: den „Girls“. Das Haar, lang und unfrisiert. Die ausgefransten Kleider. Ihr lautes, freies Lachen. Unter ihnen ist auch die ältere Suzanne, der Evie verfällt. Mit ihnen zieht sie zu Russell, einem Typ wie Charles Manson, dessen Ranch tief in den Hügeln liegt. Gerüchte von Sex, wilden Partys, Einzelne, die plötzlich ausreißen. Evie gibt sich der Vision grenzenloser Liebe hin und merkt nicht, wie der Moment naht, der ihr Leben mit Gewalt für immer zerstören könnte.“
"'The Girls' ist ein brillanter und zutiefst überwältigender Roman. Ein beeindruckendes Werk, nicht nur für eine Autorin ihres Alters, sondern für jeden Autor und jede Zeit." Richard Ford 

MEINE MEINUNG | FAZIT 

"Als Erwachsene wundere ich mich über die Schiere Menge an Zeit, die ich damals vergeudet habe. Was man uns an Genüssen und Entbehrungen von der Welt zu erwarten lehrte, die Countdowns in Zeitschriften, die uns drängten, uns dreißig Tage im Voraus auf den ersten Schultag vorzubereiten. S.31

An Emma Clines "The Girls" kommt man nach dem großen Hype gar nicht mehr unvoreingenommen vorbei. Die einen lieben es, die anderen eher weniger. Gleichsam musste das Buch schon viel Kritik einstecken, konnte sich aber auch über reichlich Lob freuen. Ich habe lange mit mir gehadert, ob mich das Buch letzten Endes anspricht oder nicht. Aber je größer die negativen Resonanzen wurden, desto größer wurde auch mein Interesse an dem Buch. Eines kann ich definitiv vorwegnehmen: ich bin äußerst positiv überrascht. Ich muss aber auch zugeben, dass ich mich wirklich von den anderen Rezensionen loskoppeln musste, um mir ein eigenes Bild machen zu können. Einige Punkte jedoch konnte ich nachvollziehen, andere wiederum waren für mich eher unbegründet. Vielen gefällt zum Beispiel der Schreibstil nicht. Bei mir war es eine anfangs holprige Angelegenheit, weil ich dieses Kriterium stets im Kopf hatte. Auf den ersten paar Seiten war mir die Schreibweise tatsächlich etwas zu gestellt, zu poetisch, was sich aber sehr schnell verflüchtigt hat. Das wäre mein erstes kleines Kriterium, dass der Anfang irgendwie nicht zum Rest des Buches passen möchte. Es gibt drei große Teile, die in kürzere Abschnitte abgegrenzt wurden. Alles wird aus der Sicht von Evie Boyd erzählt, die nach vielen Jahren auf ihre Vergangenheit zurückblickt. Mir persönlich hat diese Art und Weise der Darstellung sehr gut gefallen. Evie Boyd erzählt zwar aus der Zeit, als sie vierzehn war, jedoch bleibt der Leser durch die Selbstreflexion von naiven Gedankengängen verschont. Ich denke, wäre die Geschichte aus der aktuellen Situation der Protagonistin geschildert worden, wäre es viel zu schnell in eine "dümmliche" und nervige Erzählweise ausgeartet. So allerdings bleibt es eine nostalgische Erinnerung dessen, was war und was hätte sein können. Man fragt sich ja immer, wie Menschen dazu kommen, solch schreckliche Dinge zu tun. Mit diesem Roman erhält man ganz gut den Eindruck, dass es eine Spirale ist, der man einfach schlecht entkommen kann. Besonders die Figur "Suzanne" ist hier ein gutes Beispiel dafür.

"Wir. Das Mädchen gehörte zu einem Wir, und ich beneidete sie um ihre Ungezwungenheit, ihre Gewissheit darüber, wohin sie vom Parkplatz aus gehen würde. Zu den beiden anderen Mädchen [...], oder mit wem sie sonst noch zusammenlebte. Menschen die ihre Abwesenheit bemerken und ihre Rückkehr freudig begrüßen würden.S.76

Was den Inhalt des Buches angeht, so war ich unfassbar von der Fülle überrascht. Ich habe oftmals gelesen, dass sich viele gewünscht haben, die inneren Gefühle wären etwas rausgenommen worden und wären durch mehr Details der Ranch-Mitglieder ersetzt oder ergänzt worden. Ich habe dies ganz anders wahrgenommen. Die Erlebnisse auf der Ranch und das gesamte System, welches von "Russel" aufgebaut wurde, waren für mich durchaus genügend. Viele Passagen fand ich sogar teilweise wirklich sehr extrem, wenn man sich vorstellt, dass vor allem die erotischen Passagen, einem erst vierzehnjährigen Mädchen geschehen. Man konnte förmlich spüren, wie verzweifelt Evie versucht sich selbst zu finden, sich aber durch ihre Suche paradoxerweise komplett verliert. Die Steigerung der Machtausübung der Mädchen, die Evie kennenlernt und die sehr zwiespältige Beziehung, die sie zu Suzanne hegt, waren meiner Meinung nach sehr intensiv und auch gut ausgearbeitet. Es gibt zudem deutliche Unterschiede in Evies Darstellung der Ranch und dessen Wirkung auf sie. Der Drang dazugehören zu wollen und die Illusion, dass es eine schöne Zufluchtsstätte für Jedermann ist, werden zunehmend von der Realität verdrängt. Besonders die letzten Kapitel haben mich geschockt, obwohl man ja eigentlich ahnen kann, was passiert und wohin die Begegnungen zwischen Evie und den Menschen der Ranch führen. Vieles wird bereits ganz am Anfang angedeutet. Aber dadurch dass es eben erst zum Schluss durch präzise Schilderungen genannt wird, steigert sich die Anspannung. Zudem fand ich auch die eigentlichen Idealvorstellungen der Mädchen und Russel gut thematisiert. Es wird auf die wahnwitzigen Lebensgewohnheiten eingegangen und wie gewisse Menschen durch ihre Verrücktheit sogar andere mitreißen können, ein kompletter Realitätsverlust eben. Hinzu kommen die sich gar nicht miteinander zu vereinbarenden Ansichten, dass Geld und die allgemeine Gesellschaft falsch sei, dass man nichts für sich selbst bräuchte und man ohne Besitztümer leben kann und die Mitglieder dennoch abhängig davon sind zu stehlen, um Benzin zu haben. Obwohl Russel zwar gar nicht so oft auftaucht, kann man sich dennoch ein ziemlich gutes Bild von seiner verdorbenen Existenz machen. Ab und an war mir der "erotische Anteil" zwar etwas zu vordergründig, aber auch hier konnte man diese perfiden Machenschaften von Russel deutlich wahrnehmen.

"Wenn man aus diesem alten Vertrag ausstieg, sagte uns Russel, wenn man sich der ganzen Scheißeinschüchterungstaktik von Gemeinschaftskunde, Gebetbüchern und Rektorenzimmer verweigerte, würde man erkennen, dass es so etwas wie Recht und Unrecht nicht gab.“ S.170


Packendes Buch, welches auf ganz spezielle Art aufzeigt, wie sich Menschen gegenseitig manipulieren können und wie sehr sich jeder nach der eigenen Wichtigkeit sehnt. Spitzt sich fortlaufend zu und endet in einer sehr ergreifenden Schilderung, die beinahe träumerisch wirkt. Die Erzählperspektive der Evie Boyd, die auf die Geschehnisse zurückblickt sorgt dafür, dass es keine naive, sondern eine angemessene und reflektiere Erzählung ist. Einige Passagen zielen sehr auf das Sexuelle ab, zeigen aber ganz gut auf, wie abgründig ein Mensch sein kann. Bezieht vor allem gelungen die nach und nach entstandene Abhängigkeit der Gruppe ein und thematisiert die Schwierigkeit zu erkennen, wann man sich von jemandem lösen sollte.



Vielen Dank an den Hanser Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars!

1 Kommentar:

  1. Mir ist das Buch natürlich auch schon mehrfach gelesen und der Klappentext hatm ich neugierig gemacht. Das es gehyped wird habe ich gemerkt, Kritiken habe ich bisher aber noch gemeiden, somit war deine die Erste und die macht mich wirklich neugierig. Hört sich sehr interessant an. Mal schauen, ob ich das Buch nicht auch mal lese.

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